Historische Kontextualisierung

 

In Deutschland und Italien waren seit den 1860er Jahren junge Nationalstaaten entstanden. Auch im Habsburgerreich flammten immer wieder nationale Begehrlichkeiten unter den einzelnen Volks- und Sprachgruppen der multiethnischen Monarchie auf. Spätestens seit den Pogromen im Zarenreich oder der Affäre Dreyfuss war der Wunsch, ja die Notwendigkeit, nach einem eigenen Staat auch innerhalb des Judentums angekommen. Nicht nur der Zionismus nahm an Fahrt, auch Eugenik, biologischer Determinismus und Rassendenken nahmen einen prominenten Platz in der Welt der Wissenschaften ein. Politiker mehr oder minder aller Länder nutzten Rassendenken dazu, um Zusammengehörigkeitsgefühle und Abgrenzung der eigenen Nation gegenüber anderen zu stärken. Auch deutsch-jüdische Wissenschaftler brachten ihre Gedanken zum Thema der Rassenhygiene mit in den Diskurs ein. Einer von ihnen war Arthur Ruppin (1876–1943).

Arthur Ruppin wurde in Posen im heutigen Polen in eine jüdische Kaufmannsfamilie geboren. Er studierte Recht und Nationalökonomie in Berlin und Magdeburg. 1903 veröffentlichte sein Buch „Darwinismus und Sozialwissenschaften“, für das er 6000 Mark Preisgeld gewann. Auf Grund seiner jüdischen Herkunft entscheidet er sich allerdings gegen eine wissenschaftliche Karriere in der Eugenik. Stattdessen nimmt er 1904 einen Posten im „Büro für Statisik der Juden“ in Berlin an. 1907 reist er im Auftrag der Zionistischen Organisation nach Palästina. Er stieg ab 1908 zum Leiter des Eretz Israel Büros der Zionistischen Organisation in Jaffa auf. Im Jiwusch, der vorstaatlichen jüdischen Gesellschaft in Palästina, zählte er zu den wichtigsten Akteuren der zionistischen Bewegung. Unter anderem war Ruppin zuständig für die jüdische Besiedlung des Landes.

Zwischen 1904 und 1914 kam es zur zweiten größeren Einwanderungswelle (Alija) meist osteuropäischer Juden ins vom Osmanischen Reich kontrollierte Palästina. Die Aufgabe für die Verwaltung der jüdischen Gesellschaft vor Ort dieser Zeit war es, die Neuankömmlinge zu versorgen, an die neue Umgebung zu gewöhnen, auf das Land zu verteilen und sie für die Bestellung der kargen Landschaft Palästinas tauglich zu machen, um so eine Versorgung der jüdischen Siedler zu garantieren. Finanziers wie Baron de Hirsch und Edmund de Rothschild unterstützten die Siedlungsbewegung monetär. Theodor Herzl (1860–1904) gilt mit seinen Schriften, seinem Charisma und seinem öffentlichen Wirken als Galeonsfigur und Vater des Zionismus. Organisatorisch und ideengeschichtlich war es eine Vielzahl zionistischer Denker, die die jüdische Eroberung und Gemeinschaftsbildung vorantrieben.

 

Fragestellung

 

Einer dieser Vordenker eines jüdischen Staates war Arthur Ruppin. 1904 veröffentlicht Ruppin den Text „Die Juden der Gegenwart. Eine sozialwissenschaftliche Studie“. Darin legte er seine Thesen zur Heimat für das jüdische Volk dar. Ab 1926 hatte er den Lehrstuhl für Soziologie an der damals jüngst gegründeten Hebräischen Universität in Jerusalem inne. In diesem Aufsatz möchte ich die Gedankenwelt Ruppins rund um die jüdische Rasse, sein Bild vom idealen jüdischen Siedler und den Schlüssen, die er daraus für eine jüdische Gesellschaft zog, darstellen. Anschließend möchte ich diese Gedanken in Verbindung mit anderen Akteuren des Zionismus, die ebenfalls ihr Bild vom „Neuen Juden“ darlegten, betrachten und auf Unterschiede und Ähnlichkeiten hin untersuchen.

 

Ruppins Ansichten zu Rasse und Judentum

Ruppins Ansichten zu Rassen sind vor dem historischen Hintergrund der Besiedlung und der jüdisch-arabischen Frage in Palästina unter osmanischer Herrschaft und britischer Kontrolle nach dem Ersten Weltkrieg zu lesen. Die Eugenik war bis zum 2. Weltkrieg eine Wissenschaft die nicht nur in Deutschland vertreten war, sondern auch international eine anerkannte Disziplin darstellte. Für Arthur Ruppin sind Nationen und Rassen Realitäten, die nicht ohne weiteres überwunden werden können. Für Ruppin war die zukünftige jüdische Nation als rassisches Gemeinwesen zu sehen. Das Niveau und die „Güte“ der Einwanderer waren für Ruppin die kriegsentscheidenden Faktoren, durch die die Qualität des jüdischen Staates bestimmen wird. Anders als der trennende und zerstörerische Rassismus des Nationalsozialismus, der eine Rasse über die andere stellte, wollte Ruppin aber durch seiner Idee von rassischer Einheit eine gesunde, homogene und in sich einige Gesellschaft mit einem möglichst hohen Maß an innerem sozialen Frieden schaffen. Er betrachtet die verschiedenen Rassen als gleichwertig. Arthur Ruppin sah in der Rassenhygiene die Basis für einen gesunden Nationalstaat unter vielen, während die Nationalsozialisten auf rassische Überlegenheit als Rechtfertigung für die Weltherrschaft pochten.

Die jüdische Rasse selbst kategorisierte Ruppin innerhalb der vorderasiatischen Rasse deren Wurzeln bei Aramäern, Philistern und Beduinen liegen. Für Ruppin war die jüdische Rasse trotz ihrer geographischen Zerstreuung einheitlich und intakt geblieben. Innerhalb der jüdischen Rasse unterschied er nochmals zwischen den babylonischen, den aschkenasischen und den sephardischen Juden. Er sieht eine gemeinsame rassische Basis, innerhalb derer sich lediglich die Proportionen geändert hätten. Zwischen Juden und Arabern sah er kulturelle und physische Ähnlichkeiten. Europäische Juden sollten nicht überheblich gegenüber semitischen Juden und Arabern auftreten, sondern als Vermittler zwischen unterschiedlichen Kulturen. Über Erziehung und Bildung wollte er die unterschiedlichen Ausprägungen langsam innerhalb des Staates homogenisieren.

 

Unterschiede und Ähnlichkeiten mit anderen zionistischen Denkern

 

Im Gegensatz zu anderen Zionisten basierte für Arthur Ruppin die nationale Einheit weniger auf gemeinsamer Kultur, Religion oder Sprache als vielmehr auf der Rasse. Aus dieser Theorie leitete er, ganz Ökonom, Jurist und Beamter, praktische Grundsätze ab, nach denen die Zuwanderung nach Palästina und das soziale Gefüge funktionieren sollten. Ruppin war als einer der bedeutendsten Politiker der zionistischen Bewegung in dauerndem Kontakt zu anderen bedeutenden jüdischen Intellektuellen wie Martin Buber (1878–1965), in dessen Monatsschrift „Der Jude“ sein Artikel „Die Auslese des Menschenmaterials für Palästina“ erschien. War die Heimstätte für das jüdische Volk ein gemeinsames Ziel der zionistischen Denker, so waren die Meinungen über den Weg und die Form in der diese Heimstätte erreicht werden sollte, heterogen. Das Bild des idealen Juden um eine neue Gesellschaft zu begründen, das Ruppin in seinen Theorien vertrat, möchte ich im Folgenden mit den Gedanken anderer Zionisten vergleichen.

Ruppins Ziel war es, durch ein kontrolliertes Zuwanderungsverfahren eine ideale Gesellschaft zu gestalten. Den ersten Faktor dabei stellen für ihn die Arbeitswelt dar. 50% der Einwanderer sollten in der Landwirtschaft arbeiten, 30% in Handwerk und Industrie, 10% im Handel und 10% in den freien Berufen. Um dieses Ziel zu erreichen, wollte er die Zuwanderung der Ostjuden, die zu einem großen Teil im Handel arbeiteten, beschränken. Diese Ansicht zu den Berufen deckt sich durchaus mit Max Nordaus Bild vom aktiven „Muskeljuden“, der den intellektuellen „Talmudjuden“ aus der Schreibstube, dem Stereotyp des Juden, verdrängen wollte. Der schwächliche Jude, das Opfer aus dem Ghetto ohne Stolz auf sein eigenes Sein und ohne Selbstbewusstsein, war für Nordau nicht tauglich für den Zionismus. Er wollte kämpferische Spartaner, die über Turnvereine ihre Körperlichkeit ausbilden sollten. Nordau betrachtete allerdings das Vorurteil, dass Juden vor allem fähige Händler sind, aus historischer Sicht kritisch. Diese Arbeit wurde den Juden in der Diaspora aufgezwungen. Ebenso sieht er das negative Bild des Juden vor allem vom Fremdbild beeinflusst, das von außen in der Diaspora auf die Juden geworfen wurde. Für Max Nordau liegt es an den Juden selbst, über körperliches Training dieses Bild zu verändern. Training und Erziehung sind für Nordau wichtiger als der rassische Aspekt, den Ruppins biologischer Determinismus als entscheidend ansieht. Die Wichtigkeit von Erziehung erkennt Ruppin zwar an, die Basis für den gelingenden Nationalstaat sieht er trotzdem in rassischer Reinheit.

Auch Rabbi Kook sah in der Neuorientierung Richtung Körperlichkeit und körperlicher Arbeit einen wichtigen Faktor. Juden sollten ihre Physis stärken um das Land zu bestellen. Als Geistlicher unterschied er sich in vielerlei Hinsicht von den aufgeklärten Juden Ruppin und Nordau. In der Notwendigkeit der Besiedlung Palästinas als Basis für die Gründung einer jüdischen Nation vorantreiben zu müssen waren sich diese drei Vordenker des modernen Israels einig, auch wenn eine Staatlichkeit noch in weiter Ferne war. Rabbi Kook sah allerdings nicht die jüdische Rasse als Basis für die Nation, sondern die Einheit des jüdischen Volkes mit dem Heiligen Boden Eretz Israels.

Wenig überraschend kam auch aus der rechten Ecke des zionistischen Denkens der Wunsch nach einem stärker physisch orientierten Judenbild. Vladimir Jabotinsky wollte „junge Menschen, die Pferde reiten, auf Bäume klettern, im Wasser schwimmen, ihre Fäuste gebrauchen und Pistolen abfeuern können“ um eine nationale Einheit zu formen. Anders als Ruppin aber, der die Ähnlichkeiten zwischen Arabern und Juden aus rassischer Sicht anerkannte und für einen gemeinsamen Weg eintrat, sah Jabotinsky keinerlei Möglichkeit eine staatliche oder politische Verbindung zwischen den beiden Gruppen herzustellen.

Ein weiterer Denker, der für eine Verkörperlichung des Judentums und einen neuen Blick auf Arbeit plädierte, war Aharon David Gordon, der gedankliche Gründervater der Kibbuzim. Er erhob die körperliche Arbeit auf eine Stufe mit der intellektuellen Arbeit. Er sah, wie der gläubige Rabbi Kook, eine Einheit zwischen der nationalen Wiedergeburt von Eretz Israel, greift mit seiner esoterisch, selbst ins religiöse abdriftenden Weltsicht aber gleichzeitig die Sonderstellung der religiösen Schicht an, die die manuelle Arbeit mit dem Hinweis verweigern, Gottes Werk zu tun. Körperliche Arbeit und die Bestellung des Landes ist für Gordon der Weg zur nationalen Renaissance. Mit Arthur Ruppin verband ihn das Bild des idealen Siedlers, das sich schlussendlich im Kibbuz manifestieren sollte. Für beide sollten die zukünftigen Bewohner der kargen Landschaft Palästinas, Mann wie Frau, körperlich gesund und geeignet für die Arbeit in landwirtschaftlichen Betrieben sein. Während Ruppin aber durch einen darwinistischen Ansatz den idealen Siedler durch Auswahl vor der Migration nach Palästina herausfiltern wollte, sah Gordon den Weg der Erziehung über einen quasireligiösen Ansatz.

Fazit

 

Arthur Ruppins biologisch deterministischer Ansatz war nur einer von vielen Gedankengängen zionistischer Denker, in dem ein neues Menschenbild und damit einhergehend ein neues soziales Verständnis von Arbeit entworfen wurde. Allen Denkern war die Ansicht gemein, dass mit den Bewohnern der Ghettos Europas, den orthodoxen, religiösen „Talmudjuden“ und der assimilierten, intellektuellen Elite kein Staat zu machen sei. Die Juden von morgen sollten sich ihrer Körperlichkeit stärker bewusst werden um die Basis der Versorgung auf dem Grund und Boden Palästinas zu bilden. Die einzelnen Denker kamen aus den verschiedensten Regionen der Welt und hatten ganz unterschiedliche kulturelle Prägungen und Vermögensverhältnisse vorzuweisen. Dementsprechend unterschiedlich waren die Ansätze wie dieser neue Typus Mensch zu erreichen sei. Ruppin wollte durch Aussieben, einer Art bürokratischem Survival of the Fittest über Auswanderungsämter den idealen Siedler nach Palästina bringen. Nordau wollte über Sport- und Turnvereine den Muskeljuden durch Orientierung weg vom rein geistigen Leben und Änderung der Lebensgewohnheiten vom Heloten zum Spartaner machen. Rabbi Kook versuchte den Juden die körperliche Arbeit durch den religiösen Auftrag Eretz Israel zu bestellen schmackhaft zu machen. Vladimir Jabotinsky lehnte sich an den Faschismus an um nationale Einheit herzustellen. Aharon David Gordon wählte einen esoterischen Ansatz, der ein neues Judentum als Einheit aus Land, Arbeit und Siedler betrachtete.

Neben den Gedanken an und für sich sind auch die Unterschiede in der verwendeten Sprache, in der die Thesen vorgebracht wurden, interessant. Die Sprache Ruppins ist sehr präzise und gibt klare Anweisungen. Ruppin liebte es, Listen mit konkreten Zahlen anzufertigen. Man merkt seiner Schrift seine Ausbildung als Nationalökonom und Jurist an. Mit ungleich mehr Pathos schrieben Kook und Gordon. Die Sprache Jabotinskys und Nordaus wirkt sehr martialisch und kämpferisch.

Zuletzt lohnt es sich zu betrachten in welcher Form die Gedanken im Zionismus beziehungsweise in der Staatsbildung Einzug hielten. Ruppins biologischer Determinismus, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus Gemeingut in der Wissenschaftswelt war, war spätestens nach 1945 zum No Go geworden, auch wenn sich sein Ansatz in vielen Dingen vom Nationalsozialismus unterschied. Anhänger der Idee eines gemeinsamen jüdischen und arabischen Staates können sich allerdings heute noch auf seine Gedanken zum Thema der Gleichheit der beiden Volksgruppen berufen, auch wenn diese vom rein wissenschaftlichen Standpunkt her gesehen natürlich grobe Lücken aufweisen. Wer den „Muskeljuden“ Nordaus sehen will, sollte an einem Samstagvormittag die Strandpromenade Tel Avivs mit ihren Fitnessparks und den vielen Läufern und Radfahrern besuchen. Gordons Ideen verwirklichten sich in der Kibbuzbewegung. Rabbi Kook und Jabotinsky hingegen leben in der Siedlerbewegung in Teilen fort. Die israelische Gesellschaft und der Staat wurden von all diesen Gedanken zumindest  mitbeeinflusst. Wer die Struktur des heutigen Israel verstehen möchte, ist gut damit beraten sich mit den Ideen des Zionismus auseinanderzusetzen.