Max Nordau und sein Judentum

Vom Deutschnationalisten zum Zionisten. Eine Biographie im Nationalismus des 19. Jahrhunderts

 

Einleitung

Die Epoche zwischen dem Revolutionsjahr 1848 und dem Ende des Ersten Weltkriegs war eine von großen Veränderungen geprägte Zeit. Der kollektive Fortschritt schien die Welt erfasst zu haben. Technische Neuerungen in allen Bereichen veränderten das Leben der Zeitgenossen wie wohl nie zuvor. Die Eisenbahn revolutionierte die Mobilität von Menschen und Gütern. Die Telegraphie ermöglichte es, dass sich Nachrichten schnell verbreiteten und förderten so die Geschwindigkeit des Informationsflusses. In den rasch wachsenden Städten Europas traf sich das aufstrebende Bürgertum in Kaffeehäusern und informierte sich in Zeitungen und Journalen über das Geschehen in der Welt. Die Entwicklung in der Medizin schritt voran, gleichzeitig entwickelten sich durch die vielen technischen und gesellschaftlichen Neuerungen auch bisher unbekannte Krankheitsbilder. Die Neurasthenie, eine Form der nervlichen Überlastung auf Grund des schnelleren Lebensrhythmus den diese Neuerungen mit sich brachten, erfasste mehr und mehr Menschen in den urbanen Zentren zwischen Madrid, London, Paris, Wien, Berlin und Budapest. Es entwickelten sich neue Gesellschaftsschichten und Berufsbilder. Die Idee der Nationalstaaten dominierte die Politik, der Kapitalismus stellte die Wirtschaftswelt und gesellschaftliche Hierarchien auf den Kopf. Verfassungen wurden erlassen und wieder zurückgenommen. Parteien und Vereine gründeten sich auf Basis verschiedener Ideen wie dem Kommunismus, der Sozialdemokratie oder dem Liberalismus. Das Wahlrecht ermöglichte in vielen Ländern, wenn auch eingegrenzt, Schritt für Schritt eine Anteilnahme am politischen Leben von immer größeren Bevölkerungsschichten. Trotzdem hielten sich in vielen Ländern Monarchien und Adel hartnäckig für sehr lange Zeit am Ruder. Europäische Nationen wähnten sich ob ihrer wirtschaftlichen und technischen Überlegenheit als imperiale Herren und trugen dieses Selbstverständnis noch in die entferntesten Winkel der Welt. Darwinismus und Eugenik waren anerkannte wissenschaftliche Theorien.

Max Nordaus (1848 – 1923) Lebenszeit fiel mit faszinierender Exaktheit in diesen zeitlichen und örtlichen Raum. Seine Vita tangierte zudem eine große Bandbreite der Themen, die diese Zeit dominierten und prägten. Nordau legte einen bemerkenswerten Werdegang hin. Aufgewachsen im Judenviertel Budapests, bekleidete er die Rollen des Rabbinersohns, Mediziners, Journalisten und Autors bevor er sich als einer der führenden Intellektuellen seiner Zeit als politische Figur im Zionismus engagierte. Er lebte in Ungarn, Österreich, Deutschland, Frankreich, Spanien und England. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen führte er später das Leben eines durchaus wohlhabenden Bürgers, der ein gern gesehener Gast in den besten Salons seiner Zeit war.

Als Besonderheit innerhalb dieser Biographie, die sich in verschiedenen Welten abspielte und mehrmals eine beachtenswerte Wende hinlegte, ist Nordaus jüdische Identität herauszuheben und der Einfluss den diese auf seinen Werdegang hatte. Innerhalb der Wirren dieser bewegten Zeit entwickelte sich auch das Judentum durch die geänderten politischen und gesellschaftlichen Vorzeichen, die jüdische Aufklärung und die versuchte Assimilation. Zionisten entwickelten ihre Gedanken in sehr unterschiedliche Richtungen. Jüdisch zu sein konnte verschiedenste Ausprägungen haben. Was bedeutete es gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Jude zu leben? War das Judentum eine Religionsgemeinschaft, eine Kulturgemeinschaft oder eine Nation? Wie betrachteten Juden sich selbst, wie wurden sie von ihrer Umwelt gesehen?

In meiner Arbeit möchte ich die Veränderungen in Max Nordaus jüdischer Identität und seiner Einstellung zum Judentum betrachten. Ich möchte die Auswirkungen, die die gesellschaftlichen Veränderungen, seine Umwelt und seine persönliche Entwicklung auf sein Jüdischsein und seine Haltung und Ansicht zum Judentum hatten, näher erläutern. Daraus ergeben sich mehrere Fragen.

  • Nordau war ein Kind seiner Zeit, prägte diese aber auch als Akteur mit. Der Zeitgeist des 19. Jahrhunderts hatte großen Einfluss auf sein Denken. Welche Ereignisse und Einflüsse führten zum Wandel des eigenen Empfindens hinsichtlich seiner Identität? Wie wandelte sich der Blick auf das eigene Jüdischsein in verschiedenen Lebensphasen?
  • In der uneinheitlich geprägten zionistischen Bewegung gab es verschiedene Vorstellungen und Gedanken darüber was es bedeutete, jüdisch zu sein. Der Blickpunkt auf das Judentum und die damit verbundenen Lebenswelten änderte sich im 19. Jahrhundert stark. Welche Position innerhalb der zionistischen Bewegung vertrat Max Nordau? Welchen Blick auf das Judentum hatte er? Wie sollte sich die Rolle, die Juden in der Welt einnahmen, sowie das Bild, das andere auf das Judentum hatten seiner Meinung nach ändern?
  • Innerhalb des Judentums gab es unterschiedlichste Meinungen und Visionen zum Thema der kulturellen und politischen Entwicklung des Judentums. Wie wandelten sich Gedanken und Einstellung Nordaus zum Thema Assimilation? Wie sah er das Thema des jüdischen Staates? Welche konkreten Handlungen und Aktionen ergaben sich daraus?

Ich werde versuchen diese Fragen zu beantworten indem ich einige der vielen Zäsuren, Eck- und Wendepunkte, die Nordaus Leben erfuhr, nachzeichne. Nordaus Leben war alles andere als eine Reise mit einem fixen Ziel, wie man es in einem teleologischen Narrativ mit Startpunkt im Budapester Judenviertel und der Idee des berühmt gewordenen „Muskeljuden“ als Zielstrich, darstellen könnte. Vielmehr soll diese kurze Biographie zeigen, dass es ein Auf- und Ab ähnlich einer Achterbahnfahrt war, die vielfach von den Umständen dieser bewegten Epoche beeinflusst und geprägt wurde.

Als Basis für die Fakten rund um die gut erforschte historische Person Max Nordau ziehe ich Monographien und Beiträge, die sich mit Nordau beschäftigen, heran. Um in die Gedanken Nordaus einzutauchen sind die von ihm verfassten Bücher, Texte und Reden wichtige Quellen. Einen teils intimen Einblick in das Leben Nordaus geben Tagebucheinträge und Korrespondenz, vor allem mit seinem engen Freund und Begleiter Theodor Herzl (1860 – 1904). Mit diesen Hilfsmitteln möchte ich ein rundes Bild Max Nordaus und seinem Leben in- und außerhalb des Judentums gestalten.

Eine kurze Biographie Max Nordaus

Beim Betrachten von Fotografien Max Nordaus kommt einem unweigerlich der Gedanke den bärtigen, älteren Herrn mit dem strengen Blick als miesepetrigen Intellektuellen einzustufen. Liest man seine Texte fällt einem neben seinem Scharfsinn der oft beißende, aber sehr feine Humor auf, mit dem er seine Welt betrachtete und seine Zeitgenossen strafte. Auch die Fürsorge, die er offensichtlich gegenüber seiner Mutter und seiner Schwester an den Tag legte, passt nicht zum Bild des Misanthropen. Und hätte Nordau ohne einen gewissen Charme die Elite seiner Zeit für sich einnehmen können um so zum wichtigen Netzwerker der zionistischen Bewegung zu werden? Um Max Nordaus Gedanken und Überzeugungen zu verstehen, sowie um dieser Arbeit einen strukturellen Rahmen zu geben, ist es wichtig einen kurzen Blick auf seine Biographie zu werfen.[1]

Max Nordau begann sein Leben als Maximilian Simon Südfeld am 29. Juli 1849. Seine Mutter hatte vor seiner Geburt in Riga, Wilna, Warschau und Krakau gelebt. In Pest lernte sie Gabriel Südfeld (1799 – 1872) kennen, einen verwitweten Rabbi der bereits 4 Kinder aus erster Ehe hatte. Gabriel Südfeld wurde während der Wirren der napoleonischen Kriege in Krotoschnin in Preussen als Simcha ben Mosche geb­oren. Die Namensänderung vom jüdischen auf den deutschen Namen erfolgte auf Order der preussischen Obrigkeit.[2]

Die Zeit nach 1848 war in Pest geprägt von einem erstarkenden ungarischen Nationalbewusstsein. Der deutsch geprägte Mittelstand war in akademischen Berufen weit überrepräsentiert, was bei den Magyaren zu einer Ablehnung alles Deutschen führte. Juden genossen in Ungarn nach dem Ausgleich und dem den Ungarn von Kaiser Franz-Josef I. (1830 – 1916) zugestandenen Oktoberdiplom samt Verfassung von 1867 mehr Rechte als in anderen osteuropäischen Staaten. Das begünstigte den Aufstieg der jüdischen Bevölkerung innerhalb der ungarischen Gesellschaft. Die negative Seite dieser Entwicklung war, dass diese jüdische Emanzipation in der ungarischen Bevölkerung den ohnehin vorhandenen Antisemitismus verstärkte.[3]

Max Nordau wuchs in den ärmlichen Verhältnissen des Pester Judenviertels auf. ­In Ungarn kam es durch das wachsende Nationalbewusstsein zu einer immer stärkeren Magyarisierung der Gesellschaft. Deutsche und Juden gleichermaßen versuchten dem durch Assimilation an das Magyarische entgegenzuwirken. Ungarisch wurde zur offiziellen Schul- und Amtssprache, was das Deutsche stark zurückdrängte. Nordaus Vater arbeitete als Deutschlehrer, verlor im Rahmen der Magyarisierung aber seine Anstellung.[4]

1867 begann Nordau sein Medizinstudium an der Universität Pest sowie die Arbeit als Journalist beim Pester Lloyd. Sein außergewöhnliches sprachliches Talent, das er zuvor durch einige verfasste Kritiken unter Beweis gestellt hatte, verschaffte ihm mit nur 18 Jahren diese Anstellung. Am 7. Januar 1873 ließ er sich, nachdem sein Vater gestorben war, offiziell von Maximilian Simon Südfeld auf Max Nordau umtaufen.[5] Im gleichen Jahr beendete er sein Medizinstudium. Er leistete seinen Militärdienst in Wien ab und schrieb gleichzeitig für den Pester Lloyd Berichte zur Weltausstellung. Anschließend begab er sich mit seinem angesparten Geld auf Bildungsreise durch Europa. Nach dieser Erfahrung im Ausland übersiedelte er, ähnlich wie Theodor Herzl, vom für deutschsprachige immer unangenehmer werdenden Pest nach Paris. Aus der Pflicht und Verantwortung gegenüber seiner verwitweten Mutter und seiner Schwester Charlotte allerdings, die ihn Zeit seines Lebens begleiten sollte, musste er wieder zurückkehren.[6]

1876 beschloss Nordau Pest erneut den Rücken zu kehren und wieder nach Paris zu emigrieren um sich dort in medizinischer Anthropologie zu spezialisieren. Seine Mutter und seine Schwester, für die er nach dem Tod des Vaters endgültig die Verantwortung übernommen hatte, begleiteten ihn. In Paris arbeitete er als Korrespondent für verschiedene Zeitungen, beginnt sich für die Psychiatrie zu interessieren und arbeitet als Arzt und Pathologe. 1877 schrieb Max Nordau sein erstes Buch, „Aus dem wahren Milliardenlande. Pariser Studien und Bände“. Darin griff er sozialdarwinistische Ideen auf. Er verwendete dabei Begriffe wie „Kampf ums Dasein“ und „Zuchtwahl“.[7]

1878 kehrte die Familie auf Druck der Frauen nach Pest zurück. Nordau eröffnete eine Praxis als Frauenarzt und Geburtshelfer. Schon nach kurzer Zeit kehrte er der Stadt aber wieder den Rücken zu und begann erneut zu reisen, diesmal über Wien, Frankfurt und Brüssel nach London. 1880 brach er seine Zelte in Pest erneut ab um endgültig nach Paris zu ziehen.[8]

1881 wurde Nordau zum Pariser Korrespondenten der „Vossischen Zeitung“, was ihm gemeinsam mit seinen Buchveröffentlichungen einen finanziell soliden Lebenswandel sicherte. In dieser Zeit beschäftigte er sich mit dem aktuellen, täglichen Geschehen und entwickelte so seinen politischen Verstand.[9] Nur ein Jahr später wandte er sich ebenfalls wieder vermehrt der Medizin zu. Er dissertierte unter einem der bekanntesten Mediziner seiner Zeit, Jean-Martin Charcot (1825 – 1893) und ging in seiner Arbeit auf das Phänomen weiblicher Hysterie ein.[10]

1883 erschien sein Werk „Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit“. Nordau kritisierte darin die gesamte Gesellschaft des „Fin de Siecle“. In vielen Ländern, darunter auch in der Donaumonarchie, wurde sein Buch verboten.[11] 1892 erschien sein zeitgenössisch bekanntestes, gleichzeitig aber auch kontroversestes Buch, „Entartung“, das bis 1896 in mehrere Sprachen übersetzt und Nordau international bekannt machte.[12]

1894 erschütterte die Affäre Dreyfus Frankreich. Gemeinsam mit Theodor Herzl begann Nordau, sich für den Zionismus zu engagieren. 1896 erschien in Wien in einer Auflage von 3000 Stück Herzls Schrift „Der Judenstaat“, für die Nordau beratend beistand. Als zu dieser Zeit bekannterer und einflussreicherer der beiden Männer betätigte sich Nordau auch als Repräsentant und Redner sowie als Kontakter für die zionistische Bewegung. Nordau schrieb 1897 in der jüdischen Zeitschrift „Die Welt“ den ersten Artikel in dem er unter seinem Namen als Zionist veröffentlichte.[13]Er war auch maßgeblich als Verfasser am „Basler Programm“ beteiligt, der vielleicht wichtigsten Schrift der Zionistischen Bewegung dieser Zeit.[14] 1897 hielt Max Nordau eine der Reden am 1. Zionistischen Weltkongress im Casino Basel. Durch diese Rede zur Lage des Jüdischen Volkes, die viele Zuhörer als eines der Highlights des Kongresses bezeichneten, wurde Nordau zu einer von der Öffentlichkeit als politisch wahrgenommene Person.[15]

Anfang 1898 heiratete Nordau die Protestantin, Witwe und vierfache Mutter Anna Kaufmann.[16]

Nachdem Nordau auf dem 6. Zionistenkongress den umstrittenen Ugandaplan vorstellte, kam es zu einem Attentat auf ihn, das er überlebte.[17] Ab 1899 wurde der Jewish Colonial Trust gegründet, 1901 der Jüdische Nationalfonds. Auch jüdische Ortsgruppen gründeten sich in großer Zahl. An diesen Prozessen war Nordau als bedeutender Intellektueller und wichtiger Kontaktmann sowie enger Ratgeber Herzls maßgeblich beteiligt.[18]

Im September 1914 musste Nordau, als deutschsprachiger Journalist unter Sabotage- und Spionageverdacht, Paris mit seiner Familie verlassen. Er ging nach Madrid. Sein Vermögen wurde von der Republik Frankreich konfisziert. Ende 1919 reiste Max Nordau nach London um dort für das Central Zionist Office zu arbeiten. Entmachtet innerhalb der zionistischen Bewegung, ging Nordau 1920 zurück nach Paris. Er erlitt einen Schlaganfall und verstarb am 22. Januar 1923. 1926 wurden seine sterblichen Überreste exhumiert und nach Tel Aviv überführt, wo er am Friedhof Rehov Trumpeldor begraben liegt.[19]

Die Entwicklung des Judentums im Europa des 19. Jahrhunderts

Um die Entwicklung Max Nordaus nicht nur in seine eigene Biographie einordnen zu können, sondern um sie auch in einen größeren Kontext zu setzen, scheint es mir dienlich den Weg den das Judentum allmählich im 19. Jahrhundert aus dem Ghetto genommen hatte kurz zu erläutern.

Die jüdischen Ghettos des Mittelalters waren gleichermaßen eine Art Gefangenenlager sowie Schutzzone für die jüdische Kultur. Von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit waren Juden in der Diaspora der Überzeugung, Gottes auserwähltes Volk zu sein. Dieser Glaube allerdings wurde durch die jüdische Aufklärung geschwächt.

Als die Ghettos nach und nach wegfielen und sich Juden durch neue Gesetzgebungen und Reformen in die Gesellschaft integrieren konnten, drohten auch die Gemeinschaft und der Glaube daran ein Volk zu sein, zu zerbrechen. Juden erlangten neue Freiheiten, schlitterten gleichzeitig aber auch in eine Identitätskrise.

In Frankreich waren Juden im Rahmen der Französischen Revolution seit 1791 zu gleichberechtigten Bürgern geworden. In der Donaumonarchie wurden sie durch die verschiedenen Verfassungen zwischen 1849 und 1867 zu Bürgern. In weiten Teilen Osteuropas hingegen blieben sie weiterhin entrechtet. So erfolgte nach und nach eine Spaltung des Judentums in Aufgeklärte und Orthodoxe, die ihr Leben noch streng nach dem alten jüdischen Gesetz und Lebenskodex gestalteten.

Die Kenntnisse in Handel und Wirtschaft, die Juden sich innerhalb der Ghettos über Jahrhunderte hin aufgebaut hatten, halfen ihnen nun um sich innerhalb der einzelnen Gesellschaften Europas zu etablieren. Die parallel stattfindende und kapitalintensive Industrialisierung, diente als Beschleuniger dieser Entwicklung. Der starke Fokus auf Bildung der innerhalb des Judentums über Jahrhunderte hinweg Bestand hatte, war für einige der Schlüssel zum Eintritt in intellektuelle Berufssparten wie Medizin, Rechtswesen und Presse.

Moderne, aufgeklärte Juden begannen sich als konfessionell eigenständig, ansonsten aber assimiliert an die Gesellschaft zu sehen. Innerhalb der Donaumonarchie zum Beispiel waren die Identitäten die man annehmen konnte vielfältig, handelte es sich doch um ein multinationales und multilinguales Konstrukt. Die eigenständige jüdische Identität und Geschichte wurden verdrängt. Das Beispiel Max Nordaus, der sich trotz seiner Jugend in Ungarn in einem jüdischen Haushalt als Deutscher fühlte und eine Karriere als Arzt und Journalist einschlug, zeigt dies sehr anschaulich.

Trotz der Assimilationsbemühungen schafften es Juden vielfach nicht vollständig in den Gesellschaften anzukommen und blieben zwischen den Welten. Während die erfolgreich assimilierten Juden Westeuropas eben wegen ihres Erfolgs und des Aufstiegs in das Bürgertum diskriminiert wurden, blieben viele Juden in sehr ärmlichen Verhältnissen gefangen. Besonders das orthodoxe Judentum Osteuropas eckte ob der beibehaltenen Sitten und der Armut in der Umwelt an. Ab den 1870er Jahren kam es immer wieder zu antisemitischen Ausschreitungen. 1881, 1892, 1903 und 1905 kam es in Russland zu blutigen Pogromen. Vor allem das Pogrom 1881 in Odessa erregte Aufmerksamkeit und erzeugte Empörung. Antisemitismus als politisches Konzept und Erfolgsrezept begann sich in weiten Teilen Europas spätestens ab den 1890er Jahren durchzusetzen.[20]

Als Reaktion auf das Pogrom von 1881 entwickelte sich ein früher Zionismus. 1882 schlossen sich jüdische Studenten im Russischen Reich zur zionistisch orientierten Gruppe Biluim zusammen. Gemeinsam mit Chowewe Zion und Chibbat Zion wurde eine erste Auswanderungswelle nach Palästina angestoßen. Ebenfalls 1882 verfasste der russisch-jüdische Arzt Leon Pinsker (1821 – 1891) seine Schrift „Autoemancipation“.[21]

Der Weg zum 1. Basler Kongress war noch weit, die ersten Schritte waren aber getan.

Max Nordau am 1. Basler Kongress zur Lage der jüdischen Nation

Die Rede Max Nordaus zur Lage der jüdischen Nation von 1897 am 1. Zionistenkongress in Basel gibt noch heute einen guten Überblick über den Antisemitismus zum Ende des 19. Jahrhunderts, die Unterschiede zwischen Ost- und West sowie die daraus entstehenden Probleme.

Die antisemitische Entwicklung machte er für seine Rede zum Leitthema. Dabei unterteilte er die „Judennot“ in eine sachliche und eine sittliche. Während der zahlenmäßig größte Teil der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa, Nordafrika und Westasien unter der sachlichen, also der direkt das physische Wohl betreffenden Not litten, war es für die Juden Westeuropas die sittliche Not, die sie quälte. Nordau behandelte jeden Staat Ost und Mitteleuropas sowie Westasiens und die Verhältnisse in denen Juden dort lebten einzeln. Besonderes Augenmerk legte er auf die prekären rechtlichen Verhältnisse, in denen die 5 Millionen Juden in Russland lebten.[22]

„Der Jude des Westens hat Brot, aber man lebt nicht von Brot allein.“ So umschrieb Nordau die sittliche Not, denen Juden in Westeuropa ausgesetzt waren. Die Emanzipation und Gleichberechtigung der Juden Westeuropas schrieb Nordau nicht einem Unrechtsempfinden über die Behandlung, sondern dem logischen Kalkül zu, das von der französischen Revolution ausging. Über die proklamierten Menschenrechte ergab sich in Frankreich automatisch auch die Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung, da diese ja zweifelsfrei als Menschen zu sehen seien. In Nachahmung dieser französischen Geisteshaltung und Logik zogen andere europäische Länder nach. Als Ausnahme sah Nordau England, wo sich die jüdische Emanzipation natürlich und langsam entwickelt hatte.[23] Trotz all dieser humanistischen Überlegungen war von Gleichberechtigung aber auch in Westeuropa nichts zu bemerken.

Das Ghetto der Zeit vor der jüdischen Emanzipation sah Nordau zwar als Gefängnis, gleichzeitig aber auch als Zufluchtsort in dem sich das Judentum bewahren konnte. Jüdische Traditionen, Gebräuche und Kleidungsvorlieben waren eine Art und Weise, um sich das Judentum zu bewahren und es vor äußeren Einflüssen zu schützen. Ein Sich-Abwenden von diesen Traditionen wurde von orthodoxen Juden als ein Verrat am Judentum insgesamt gesehen.[24]

Mit dem Ausbruch des westeuropäischen Antisemitismus in den 1870er Jahren und den Folgen, dass Juden erneut vom sozialen Leben ausgeschlossen wurden, sah Nordau einen Paradigmenwechsel vor sich gehen. Die aufgeklärten Juden hatten dadurch einerseits ihr neues Vaterland verloren, andererseits konnten sie auch in ihr altes jüdisches Leben nicht mehr zurückkehren. Das äußerte sich für Nordau in einer breiten Krise, die er so ausdrückte: „Innerlich wird er verkrüppelt, äußerlich wird er unecht und dadurch immer lächerlich und für den höher gestimmten, ästhetischen Menschen abstoßend wie alles Unwahre.“ Dadurch, dass der Antisemitismus nicht religiös, sondern rassisch motiviert war, gab es kein Entrinnen. Zusammenfassend sah Nordau das jüdische Volk als „ein(en) Stamm von geächteten Bettlern,“ die durch die Verweigerung zur Selbstverwirklichung von außen zum Dasein im Proletariat gezwungen waren.[25]

Vom Rabbinersohn zum deutschnationalen Republikaner, Sozialdarwinisten und Analytiker einer „entarteten Zeit“

Max Nordaus leben, die so viele Rollen umfasste, bietet mehr als den Stoff für nur einen Spielfilm. Bereits als Jugendlicher und junger Mann muss er einen sehr starken, unabhängigen und aufsässigen Charakter besessen haben, der sich nicht davor scheute gegen den Strom der Alltagsmeinung der Umwelt seiner Zeit zu schwimmen. Aufgewachsen unter einem Vater, der als orthodoxer Rabbiner bei seiner Geburt bereits 50 Jahre alt war, lehnte sich Nordau wohl schon durch seinen Atheismus gegen den Willen des Familienoberhauptes auf. Nordau kehrte sich schon in sehr jungen Jahren vom Judentum ab. Nicht nur war er bekennender Atheist, er äußert sich sogar überaus verächtlich über Juden und das Judentum.[26]

 

Die deutsche Identität Max Nordaus

Die erste große Zäsur im Leben Max Nordaus war wohl die zunehmende Magyarisierung seiner Umgebung in Ungarn. Das für Nordau so essentielle Deutschtum verlor jeden Wert im Zuge der Bildung eines ungarischen Nationalgefühls innerhalb des Vielvölkerstaats der Donaumonarchie.

Interessant ist dabei der Zwiespalt dem Nordau ausgesetzt war. Bereits in seiner Jugend war er überzeugter Republikaner und ein interessierter Anhänger des „Risorgimento“, des italienischen Befreiungskampfes von Fremdherrschaften. Besonders Giuseppe Garibaldi (1807 – 1882), der mit waghalsigen Aktionen für die nationale Idee und die Einheit Italiens eintrat, faszinierte den jungen Nordau.[27] Garibaldi war ein Revolutionär, Querdenker und Nonkonformist, der nicht davor zurückgescheut war den Papst aus Rom zu vertreiben, die Römische Republik auszurufen und später mit seinem „Zug der Tausend“ Sizilien und Neapel zu besetzen. Dass Nordau hingegen dem nationalen Erwachen Ungarns so gar nichts abgewinnen konnte und in seinem deutschnationalen Denken gefangen blieb, erscheint nur auf den ersten Blick paradox. Zwei Faktoren waren dafür ausschlaggebend.

Erstens musste Nordau spätestens mit dem Arbeitsverlust des Vaters, der für Nordau direkt mit der Magyarisierung zusammenhing, auch persönliche Einbußen hinnehmen. Er musste sehr früh Verantwortung zeigen, die finanzielle Situation der Familie war angespannt. Max Nordau musste unter diesem Druck noch vor der Matura das Gymnasium in Pest verlassen und arbeitete als Hauslehrer um so zum Familieneinkommen beizutragen.[28]

Zweitens war die Idee des Deutschtums und der Übermächtigkeit der deutschen Sprache und Kultur in Nordau sehr stark verankert. Er fühlte sich als Deutscher, und diese Identität wurde nun von den Ungarn herabgesetzt. Als er sich 1873, wohlgemerkt erst nach dem Tod des Vaters, für den Namen Nordau entschied, war das auch als Symbol für die deutsche Identität zu sehen in der er sich sah. Dabei wandte er sich sowohl gegen das Judentum wie auch gegen alles Magyarische, das in der Familie Südfeld ohnehin als minderwertig sowohl gegenüber dem Deutsch- wie auch dem Judentum galt. Seinen jüdischen Spitznamen „Simcha“ sollte er nur mehr in Briefen seiner Schwester gegenüber verwenden. Erst im gehobenen Alter, nachdem die Affäre Dreyfus ihn zum glühenden Zionisten werden hatte lassen, sollte er die Magyarisierung und das Verlangen der Ungarn nach einem eigenen Staat in Unabhängigkeit der Habsburgermonarchie verstehen.[29]

Spätestens mit seiner Bildungsreise 1873 nach dem Militärdienst, quasi einer klassischen „Grand Tour“, war der Rabbinersohn Südfeld als Max Nordau im europäischen Bildungsbürgertum angekommen. Wie weit sich Max Nordau mit seiner Deutschtümelei von seinen jüdischen Wurzeln entfernt hatte, zeigt sich an zwei Vorkommnissen während seiner Zeit in Paris. 1880 fühlte er sich deutsch genug, um in der antisemitisch orientierten Zeitschrift „Gartenlaube“einen sehr kritischen Artikel hinsichtlich der magyarischen Deutschenfeindlichkeit zu veröffentlichen. Für Nordau verstieß die Abkehr Ungarns von der deutschen Kultur nicht nur gegen das in der Donaumonarchie geltende Nationalitätengesetz, sondern bedeutete auch einen Rückschritt im kulturellen Sinne.[30] Ab 1885 pflegte Nordau auch eine Freundschaft mit Eugen von Jagow, einem explizit antisemitischen Journalisten, der später sogar zum Taufpaten seiner Tochter Maxa Nordau werden sollte.[31]

Entartung: Eine sozialdarwinistische Gesellschaftsanalyse

Auch sonst verinnerlichte Nordau die Werte des liberalen Bürgertums in vielerlei Hinsicht. Einer dieser Werte des Zeitgeistes war der Sozialdarwinismus, der nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern auch zwischen Nationen das Prinzip des „Survival of the Fittest“ voraussetze. Nordau hing dem damals gängigen Gedanken an den unaufhaltsamen gesellschaftlichen Fortschritt an. Auch deshalb fiel sein Urteil über das Judentum so desaströs aus. Juden würden zu sehr an Tradition, Gepflogenheiten, Zeitrechnung, Feiertagen, Festen, Speisegesetzen und Namenswahl festhalten. Um in der modernen Gesellschaft akzeptiert und assimiliert zu werden, müssten Juden sich mehr an ihre Umwelt anpassen.[32]

Nordau war, im Sinne des Sozialdarwinismus davon überzeugt, dass Technik und Moderne auch über die Kunst siegen würden. In seiner 1892/3 in zwei Bänden erschienen Streitschrift „Entartung“ prangerte er die seiner Meinung nach in vielfacher Hinsicht falsch laufenden gesellschaftlichen Entwicklungen an.

Obwohl er das für ihn rückständige Judentum verachtete, lehnte er den gesellschaftlichen Antisemitismus ab. Max Nordau sah durch Krieg, Verstädterung und Industrialisierung eine stetige Zunahme der Hysterie in Deutschland. Während sich die frommen Engländer mystisch-religiöser „Entartung“ zuwendeten und die kunstaffinen Franzosen sich in Musik, Literatur und Malerei „entarteten“, so äußerte sich die „Entartung“ des deutschen Volkes als Antisemitismus.[33]

Max Nordau erklärte die Kunst des Fin de Siecle in großen Teilen als entartet und verglich die entarteten Künstler „des Schriftthums, der Musik und Malerei“ mit Verbrechern, Anarchisten und Prostituierten, die sein Spiritus Rektor Cesare Lombroso (1835 – 1909), dem das Buch gewidmet ist, in seinen Schriften untersuchte.

„Das ist keine gleichgültige Erscheinung. Bücher und Kunstwerke üben eine mächtige Suggestion auf die Massen. Aus ihnen schöpft ein Zeitalter sein Ideal von Sittlichkeit und Schönheit. Wenn sie nun unsinnig und gesellschaftsfeindlich sind, so wirken sie verwirrend und verderbend auf die Anschauungen eines ganzen Geschlechts.“[34]

Entartete waren für Nordau an körperlichen Merkmalen zu erkennen, zum Beispiel durch „ungleiche Entwicklung der beiden Hälften des Gesichtes und Schädels, dann Unvollkommenheiten an der Ohrmuschel, durch unförmliche Größe auffällt oder henkelartig vom Kopfe absteht…“. Diese Ansichten zum Zusammenhang zwischen Aussehen und Charakter waren im 19. und 20. Jahrhunderts in der Wissenschaft unter Eugenikern Common Sense.[35]

Max Nordau macht die Zunahme von Reizmitteln als einen der Gründe für die Entartung des Fin de Siecle aus.

Ein Geschlecht, das regelmäßig, selbst ohne Übermaß, Betäubungs- und Reizstoffe in irgend einer Form gebraucht (also gegohrene, weingeisthaltige Getränke, Tabak, Opium, Haschisch, Arsenik), das verdorbene Nahrungsmittel genießt (mutterkornhaltiges Brod, schlechten Mais), das organische Gifte in sich aufnimmt (Sumpffieber, Syphilis, Tuberkulose, Kropfkrankheit), erzeugt entartete Nachkommen, die, wenn sie denselben Einwirkungen ausgesetzt bleiben, rasch zu den tiefsten Stufen der Degeneration, zum Blödsinn, zur Zwerghaftigkeit u. s. w. hinabsteigen.“

Als Arzt und Wissenschaftler untermauerte er diese Thesen mit Statistiken zum Konsum der verderbten Ingredenzien der Entartung.

Ein anderer Grund war nach Ansicht Nordaus der schädliche Einfluss der Großstadt auf die Bevölkerung. Durch den wachsenden Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung sei es daher wenig verwunderlich, dass auch die Anzahl der Entarteten sprunghaft anstiege.

„Der Bewohner der Großstadt, selbst der reichste, der von ausbündigstem Luxus umgebene, ist fortwährend ungünstigen Einflüssen ausgesetzt, die seine Lebenskraft weit über das unvermeidliche Maß hinaus vermindern. Er athmet eine mit den Ergebnissen des Stoffwechselns geschwängerte Luft, er ißt welke, verunreinigte gefälschte Speisen, er befindet sich in einem Zustande beständiger Nervenerregung und man kann ihn ohne Zwang dem Bewohner der Sumpfgegenden gleichstellen.“ [36]

Nordau war überzeugt davon, dass Entartung über das Verhalten der vorangegangenen auf die nächste Generation weitervererbt werden würde. „Der Trinker (und wahrscheinlich auch der Raucher) erzeugt geschwächte, erblich ermüdete oder entartete Nachkommen und diese trinken und rauchen wieder…“[37]

Ganz Sozialdarwinist, war Nordau ein Verfechter einer Leistungsgesellschaft. Dies passt zu seinem Ansatz, dass sich der Mensch über körperliche Ertüchtigung und Training weiterentwickeln kann. „Der tüchtige Mann, der der Natur ihre Gaben abringt, der emsige Forscher, der im Schweiße seines Angesichts die Quellen der Erkenntnis erbohrt, flößen Achtung und herzenswarmes Mitgefühle ein.“ [38]

Diese sozialdarwinistischen Ansätze, die Nordau an den Tag legte, flossen später auch in seine zionistischen Ansichten ein, ja sie prägten einen guten Teil der zionistischen Bewegung. Mit Arthur Ruppin (1876 – 1943) würde später ein anderer wichtiger Akteur des Zionismus auf die Rassenlehre setzen. Er sah eine jüdische Nation als ein rassisches Gemeinwesen an, über deren Güte man durch eine Art Qualitätskontrolle durch Kriterien in der Einwanderung man Einfluss nehmen konnte.[39]

Die assimilierten Juden Westeuropas zu denen Nordau zu zählen war, hatten den Aufstieg in das liberale aber konventionelle Bildungsbürgertum geschafft. Nun war es ihnen ein Anliegen, ihre Stellung nicht gegen die Moderne zu verlieren. Die Kultur des 19. Jahrhunderts zu bewahren gegenüber dem hedonistischen, individuellen neuen Ideal, das von Künstlern, Autoren oder Philosophen propagiert wurde, war ihnen ein Anliegen. Diese Sitten und Bildungsideale zu erlangen war ein hartes Stück Arbeit gewesen und sollte nun nicht verloren gehen. Auf diesen konservativen Ideen des Bildungsbürgertums beruhte die Einstellung vieler Juden und sie sollten auch die Basis seines politischen Zionismus bilden. Diese Werte zu verlieren barg für Nordau eine Welt zu verlieren, in der sich die assimilierten Juden zurechtgefunden und eingerichtet hatten.[40]

Momente der Ablehnung:  Durch Antisemitismus zum Zionismus

Wie aber kam es dazu, dass Max Nordau, der für das Judentum offensichtlich nichts übrighatte, in der Mitte der 1890er Jahre zu einem der wichtigsten Begleiter und Berater Theodor Herzls und Wegbereiter des jüdischen Staates wurde?

Einer der Gründe war wohl im völkisch motivierten Antisemitismus, der sich im 19. Jahrhundert entwickelte, zu finden. Nordau selbst war der Rassenlehre wie bereits erörtert nicht gänzlich abgeneigt, auch wenn er die Sprache als national verbindendes Element betrachtete. Farbige, außereuropäische Rassen betrachtete Nordau als unterlegen, für ihn war es die Aufgabe der Europäer sich diese Rassen untertan zu machen. Dass diese Thesen die Basis dafür waren, dass er sich selbst immer wieder als Fremder und ausgeschlossen fühlte, wo er diese Gesellschaft doch mitprägte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.[41]

Bereits Nordaus Vater war von den politischen Umständen seiner Zeit stark betroffen. Durch die Teilung Polens zwischen 1772 und 1815 fragmentierte sich auch das Judentum, das dort angesiedelt war. Die jüdische Bevölkerung Westpolens, die nun zu Preußen gehörte, probierte sich ähnlich den Westjuden zu assimilieren, teils auch unter herrschaftlichem Druck. Die erzwungene Namenswahl Nordaus Vaters war ein Beispiel für diese von oben erzwungene Assimilation. In den an Russland gefallenen Gebieten wurde die jüdische Bevölkerung gesellschaftlich noch stärker ausgegrenzt. Viele Juden emigrierten nach Ungarn ,wie Nordaus Vater, oder in Gebiete des heutigen Rumänien.[42]

Wie bereits erläutert, war Nordau dem Judentum des Vaters in einer ersten Phase der Auflehnung und Emanzipation schon während seiner Schulzeit enteilt. Im Lauf seines Studiums, des Militärdienstes in Wien und seiner Bildungsreise von 1873 hatte sich Nordau immer weiter vom jüdischen Leben in Pest entfernt.

Obwohl assimiliert und Atheist, musste Max Nordau erkennen, dass er seinen jüdischen Wurzeln nicht würde entfliehen können. Dieses Gefühl steigerte sich mit der Zunahme des Antisemitismus in Europa.

In Berlin merkte Nordau, dass er auf intellektueller Ebene zwar mit der feinen Berliner Gesellschaft mithalten kann, seine Abstammung aus der ungarischen, jüdischen Unterschicht ihm trotzdem den Zutritt verwehrt.[43]

Jahre später, Nordau war durch sein Buch „Entartung“ bereits ein bekannter Schriftsteller, erfuhr er während eines Ferienaufenthalts an der Nordsee den Antisemitismus des Fin de Siecle am eigenen Leib. Er, der sich als Deutscher fühlte, wurde auch nach vielen Jahren in denen er dem Pester Judenviertel quasi entflohen war, sich einen neuen Namen gegeben hatte und zur intellektuellen Elite seiner Zeit gehörte, noch immer als Jude angesehen.[44]

Woher kam aber der Antisemitismus in Europa? Den Reichtum des „Geldjudentums“ erkannte Nordau nicht als die Ursache des Antisemitismus an, da Juden zu den ärmsten Völkern überhaupt zu zählen waren bzw dort, wo reiche Juden lebten wie z.B. in den Niederlanden der Antisemitismus nicht besonders stark ausgeprägt war. In Russland und Rumänien hingegen, wo Juden innerhalb der Wirtschaft überhaupt keine Rolle spielten, kam es sehr häufig zu antisemitischen Übergriffen. Die Wurzel des Antisemitismus sah Nordau darin, dass Menschen dazu neigen Fremdem zu misstrauen und es zu hassen, vor allem wenn das Fremde in einer unterlegenen Position war.[45] In Herzls Schrift „Der Judenstaat“, an dem Nordau nachweislich zumindest als sehr früher Lektor und Begutachter beteiligt war und mit dessen Inhalt er zum allergrößten Teil d´accord ging, wurde der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts damit begründet, dass die Juden, als sie aus dem Ghetto durch die Emanzipation entlassen worden waren, zu einem Mittelstandsvolk geworden waren, das dem europäischen Mittelstand zusätzliche Konkurrenz mache.[46]

1894 wurde Nordaus Leben von der Affäre Dreyfus erfasst. „La libre Parole“, eine antisemitische Zeitschrift, berichtete ab November 1894 regelmäßig über die Affäre rund um den französischen Hauptmann jüdischer Herkunft Alfred Dreyfus (1859 – 1935), der im Dezember 1894 verurteilt und im Januar 1895 unehrenhaft aus der französischen Armee entlassen und auf die Teufelsinsel verbannt wurde. Die Stimmung wurde durch die Presse aufgeheizt, die Gesellschaft war gespalten ob der Spionagevorwürfe gegenüber Dreyfus. Der Prozess war kurz und offensichtlich einseitig und ungerecht geführt worden. Wie Theodor Herzl, war auch Max Nordau bei der öffentlichen Entlassung Dreyfus´ anwesend und wurde Zeuge des offen zur Schau gestellten Antisemitismus der Massen. Sowohl für Herzl wie auch für Nordau war genau dieses von der Öffentlichkeit tolerierte an der Affäre der Beweis dafür, dass die Assimiliation der jüdischen Bevölkerung in die sie umgebende Gesellschaft bei allem Bemühen vergebens sei. „A mort les juifs,“ (Anm. Tod den Juden“) war der Kampfruf der Gegner Dreyfus´. Die Aggressionen richteten sich also nicht gegen das verurteilte Individuum, sondern gegen das Judentum allgemein. [47]

1898 nahm Max Nordau in „Das unentbehrliche Ideal“ direkt darauf Bezug. Mit 48 Jahren blickte er etwas verklärend auf seine Vergangenheit retour, in der er sich als Deutscher, nicht aber als Jude gefühlt hatte. Für Juden seines Alters sei der „Antisemitismus zu spät aufgetreten…“. Er gab hier als unumwunden zu, dass der Antisemitismus für ihn die Triebfeder war, um sich dem Zionismus und dem Judentum zu widmen.[48]

1899 hielt Nordau eine Rede am Kommers Wiener jüdischer Hochschüler, in der er sich an seine eigene deutschnationale Gesinnung und den Moment, als ihm der Antisemitismus endgültig bewusst wurde, erinnerte. Er zog in dieser Rede eine Parallele zwischen den Heloten, der rechtlosen Sklavenschicht Spartas, und den Juden.[49]

Max Nordau verglich das jüdische Volk mit einem lebendigen Organismus. Dessen Stärke sah er darin, dass er auf Bedrohung von außen reagieren kann. Im Antisemitismus wähnte Nordau nicht nur den Grund für den Zionismus, sondern auch den Beweis dafür, dass das Judentum ein Volk ist, da sich der Antisemitismus eben gegen das jüdische Volk und die Rasse richtet. Spätestens mit der Verweigerung durch den Antisemitismus an die Juden, sich als Deutsche, Franzosen oder Engländer zu fühlen, würde sich das Recht sich als Volk zu fühlen begründen.[50]

Die Affäre Dreyfus spielte in ihrer gesamten Wucht mit Sicherheit eine wichtige Rolle in Nordaus Leben und wird bis heute gerne als die eine große Zäsur in Nordaus Leben dargestellt, die ihn schließlich zum Zionisten werden ließ. Diesem monokausalen Ansatz sollte man mit Vorsicht begegnen. Die plötzliche Berufung zum Zionisten durch die Affäre Dreyfus ist ein gutes Narrativ, das wohl deswegen auch gerne herangezogen wird um Nordaus Wandel möglichst einfach und plakativ zu beschreiben. Sie ist durchaus auch so in Texten Nordaus oder auch im „Judenstaat“ festgehalten.[51] Die Geschichte erinnert ein wenig an das Damaskuserlebnis des Apostels Paulus. Ich denke allerdings, dass der Wandel Nordaus schleichend stattgefunden hatte. Es war keine plötzliche Berufung zu einem höheren Ideal. Vielmehr war es wohl ein sich langsam abspielender Prozess im ausgezeichneten Beobachter seiner Zeit Max Nordau.

1907, einige Jahre später, spielte Nordau selbst die Bedeutung des Antisemitismus als treibende Kraft hinter dem Zionismus herunter: „Der Antisemitismus war höchstens ein Anlaß, er war sicher nicht der Grund des Zionismus. Der Judenhaß hat nur in vielen Juden das eingeschlummerte Stammesbewußtsein geweckt und sie ermahnt, sich auf ihre geschichtliche Individualität zu besinnen.“[52]

Auch Nordaus sehr lautmalerischer Text zum Unterschied zwischen dem jüdischen und den anderen Völkern Europas unterstreicht die These, dass sich Nordau selbst durchaus bewusst war, dass die Hinwendung zum Zionismus nicht anlassbezogen die Affäre Dreyfus allein war. Er verglich in diesem Beispiel die vulkanische und neptunische Theorie, die von Geologen zur Erklärung der Weltgeschichte herangezogen wird. Während nach der neptunischen Variante die Erde langsam nach und nach entstanden sei, besagte die vulkanische eine spektakuläre Planetengeburt. Genau so solle man auch beim Unrecht den Juden gegenüber nicht nur die großen Ausschreitungen, Gewalttaten und Pogrome sehen die für viel Aufsehen gesorgt hatten, sondern müsse ähnlich der neptunischen Theorie auch die andauernd bestehende Ungerechtigkeit betrachten, die dazu führe dass sich die Juden als Volk nicht entwickeln können.[53]

Das Judenbild Max Nordaus

Wie aber sah Max Nordau nun das Judentum? Max Nordau hatte zwar von seinem Vater eine jüdische Erziehung genossen, sich aber sehr schnell vom traditionellen Judentum seiner Zeit entfernt und mit aller Macht probiert sich in die moderne Gesellschaft zu integrieren. Für Leon Bootstein allerdings stellte die journalistische Tätigkeit des assimilierten, atheistischen und wissenschaftlich modern gebildeten Max Nordau eine „säkularisierte Form der Fortsetzung der Tätigkeit des Vaters dar.“ An die Stelle von jüdischem Regelwerk und Gottglauben waren Untersuchung und Diagnose der Gesellschaft getreten.[54]

Die Assimilation erwies sich aber sehr schnell als problematisch. Max Nordau bezog in „Die Tragödie der Assimilation“ dazu Stellung. Max Nordau verglich in dieser kurzen Erzählung die jüdische Assimilation mit dem bekannten Pakt mit dem Teufel. Juden verleugneten ihre Identität genau wie Menschen ihre Seele verkaufen um zu Ruhm, Reichtum und Ehre zu kommen. Als Beispiel zieht er den jüdischen Kaufmann Ballin heran, der es bis in die höchsten Kreise der Aristokratie und Politik schaffte. Zum Ende des Krieges bittet ihn der Kaiser um Rat. Als Ballin darauf einen Waffenstillstand vorschlägt, reagiert der Kaiser erbost und mit antisemitischen Verunglimpfungen.  Nordau schildert diesen abrupten Fall mit dramatischen Worten, indem er Ballins Beispiel für das jüdische Schicksal im Allgemeinen heranzieht.

Er hatte seine jüdische Seele für trügerische Größe verkauft. Er heimste alle Erfolge ein – amtliche, berufliche, gesellschaftliche, und fühlte sich als einer der repräsentativsten Männer Deutschlands, als einer von jenen, auf die das deutsche Volk am meisten stolz war und sein mußte. Die germanische Maske, die er vor sein natürliches Angesicht vorgenommen hatte war mit seinem Antlitz verwachsen, war seine lebende Oberhaut geworden. Doch siehe da: in einem kritischen Augenblick, wo er geglaubt hatte, als Deutscher ohne Furcht und Tadel fühlen, denken, sprechen, handeln zu dürfen, hatte eine erbarmungslos grausame Hand, eine Kaiserhand, ihm roh diese künstliche Haut abgerissen, ihn geschunden, ihn entblößt und ihn mit seinem blutenden, entstellten Judengesicht gelassen, in das man ihm voll Verachtung die Worte schleuderte: „Jüdischer Händler! Auf Herrschaft erpicht!“[55]

Für Nordau war die Zugehörigkeit zum Judentum sowie die Zugehörigkeit als Bürger zu einem Staate möglich. Erunterschied sehr scharf zwischen Nationalität und Staatsbürgerschaft. Ein Jude könne der Meinung Nordaus nach, obwohl Zionist, sehr wohl ein guter ungarischer Staatsbürger und Patriot sein. Die magyarische Nationalität allerdings könne er nie erlangen.[56]

Nordau sah Juden nicht als „vaterlandslose Gesellen“, wie sie von Antisemiten gerne bezeichnet wurden. Er sah sie durchaus als treue Bürger ihres Staates. Er bezeichnete sogar die Loslösung des Einzelnen vom Vaterland als eine der schwersten Aufgaben des Zionismus an. Jedoch sollte jeder Bürger seinem Staat nur so weit dienen, wie dieser ihm die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung gibt. Er fordert „Liebe um Liebe“ sowie „Treue um Treue“ und nicht eine einseitige Ehrerbietung, während dem der jüdische Bürger zu einem „Heloten“ und einem „Bürger zweiter Klasse“ herabgestuft wird.[57]

Nach und nach begriff Nordau, dass die Assimilation und Integration von Juden in Europa auf Grund des Antisemitismus zum Scheitern verurteilt war. Das Judentum wurde in der Zeit des Nationalismus und völkischen Denkens in den europäischen Gesellschaften nicht als Religionsgemeinschaft wahrgenommen. Vollständige Assimilation war deshalb nicht möglich. Auf die fehlgeschlagene Assimilation reagierten viele Juden mit Selbstverleugnung, vollkommener Ablehnung der jüdischen Identität, Selbsthass und Hass auf das orthodoxe Judentum, das sie als Grund für das Scheitern der Assimilation ausmachten. Der Zionismus war die radikalste Reaktion auf den Antisemitismus. Triebfedern waren neben der Rückbesinnung auf ein starkes Judentum der steigende und scheinbar unüberwindbare Antisemitismus Westeuropas sowie die Pogrome in Osteuropa, die ein schnelles Handeln verlangten.[58]

Das bestehende Bild des Judentums betrachtete Nordau nicht wohlwollend. Vor allem die orthodoxen Juden Osteuropas und das Körperbild das sie vor sich hertrugen verstimmte ihn. Es bestand und besteht bis heute ein großer Unterschied in der Ansicht zu Körperlichkeit zwischen der aufgeklärten, säkularisierten westlichen Welt und dem streng religiösen, orthodoxen Judentum.[59] Der blasse und magere Körper vieler Juden in der Diaspora war ein gewünschtes Merkmal der Volkszugehörigkeit. Über dieses Körperbild repräsentierten gläubige Juden, dass sie sich vor allem mit dem Studium des Talmuds beschäftigten. Eine Entsagung der Körperlichkeit war ein Symbol der Zusammengehörigkeit und des Glaubens. Die Kleidung sollte die Juden zusätzlich und bewusst weiter von der Umwelt der „Gojim“ (Anm.: Nichtjuden) abtrennen und die Wirkung des Antikörperlichen unterstreichen.[60] Das Schönheitsideal männlicher Juden in der Diaspora sollte das Primat des Geistes über den Körper ausdrücken. Junge Männer sollten über Blässe und einen möglichst untrainierten Körper genau das zur Schau stellen. Während dem Mann körperliche Schönheit auch in der Bibel eher zur Last gelegt wurde, wurden Frauen dafür gepriesen. Die Rolle der Frau als Gebärerin war durchaus eine weltliche. Das Judentum erkennt die Schönheit eines gesunden Körpers also an, bewertet sie je nach Geschlecht aber unterschiedlich, entweder als weibliche Tugend oder als männlichen Makel.[61]

Die Antwort fand der Arzt und Sozialdarwinist Nordau in einem gänzlich neuen Judenbild. „Die zionistischen Juden sind keine Heloten. Sie sind Spartaner. Mit dem Schilde oder auf ihm. Das ist heute zionistisch-jüdisch, wie es einst spartanisch war.[62]

Der „Muskeljude“ war Nordaus Idee einer Antwort des Judentums auf die Herausforderungen und Bedrohungen durch den Antisemitismus des Fin de Siecle. Juden sollten sich von ihrem Dasein im Ghetto befreien. Nicht nur rechtlich, auch in ihrer Körperlichkeit sollten sie ein anderes Bild abgeben als bisher. Der „Schreibtischjude“ sollte Geschichte sein. Nordau wollte starke und selbstbewusste Juden erziehen, die sich nicht von ihrer Umwelt drangsalieren und gängeln ließen. „Werden wir wieder tiefbrüstige, strammgliedrige, kühnblickende Männer.“ Als Vorbild sollte der antike jüdische Held Simon Bar Kochba dienen, der den Aufstand von 135 n. Chr. gegen das Imperium Romanum anführte. „Bar Kochba ist die letzte weltgeschichtliche Verkörperung des kriegsharten, waffenfrohen Judentums.“ [63]

Als Schuldige an der Entwicklung des Judentums in diese falsche Richtung machte Nordau die Ghettos und die körperfeindlichen Lebensbedingungen, die dort herrschten, aus.

Die anderen haben die Fleischabtötung an uns geübt, mit dem reichsten Erfolge, den hunderttausende von Judenleichen in den Ghettos, auf den Kirchenplätzen, an den Landstraßen des mittelalterlichen Europa bezeugen.“[64]

Für Nordau trug die antisemitische Haltung in Europa Schuld daran, dass Juden kein Verhältnis zu ihrer Körperlichkeit hatten. Sie hätten das Fremdbild des „krummen und körperlich gänzlich unbegabten“ übernommen und seien so selbst zu Antisemiten geworden.

Der Ausweg aus dieser Misere führte der Meinung Nordaus nach über die körperliche Ertüchtigung durch Turnen. Turnen war im 19. Jahrhundert vor allem in Deutschland die Leitsportart schlechthin. Turnvereine verschiedenster Couleur schossen aus dem Boden wie Pilze. Für Nordau war die Entwicklung der Muskulatur rein auf Übung zurückzuführen. In der Jüdischen Turnzeitung vom Juli 1902 attestierte Nordau Juden „mangelnde Stattlichkeit“. Ob dies eine „Entartungserscheinung“ durch die ungünstigen Lebensumstände in den Ghettos sei oder ob „…sie (Anm.: Juden) schon von allem Anfang eine Rasse von unansehnlichem Wuchse waren…“ wollte Nordau nicht endgültig beurteilen. Die Tatsache der Unstattlichkeit allerdings sei schnell zu beheben. „Jeder Jude, der sich schwach glaubt oder schwach ist, hat es also in der Hand sich eine Athletenmuskulatur zuzulegen.“[65]

Bewegung war für Nordau nicht nur auf die Muskulatur, sondern auch auf die Leistung des Bewegungszentrum im Hirn zurückzuführen. „Kühnheit, Beherrschung aller Muskelgruppen und die Vorstellung der Ausführung einer Bewegung“ seien im Turnen wichtiger als die pure, rohe Kraft. Jeder, egal ob Jude oder Arier, sollte also in der Lage sein seinen Körper athletisch auszubilden, da an der „geistigen Flinkheit“ noch nicht mal Antisemiten Zweifel hegen würden. Pure Muskelkraft schafft es nicht, aus einem „Tölpel einen Athleten zu machen“. Als Ausnahme sah Nordau hier den „rohen und geistlosen Fußball, wo der klobige, brutale Tolpatsch dem pantherähnlich blitzgewandten Geistesmenschen überlegen wäre…“.[66]

In der Folge gründeten sich jüdische Turnvereine mit einem ähnlich den deutschen Turnvereinen nationalistischen Hintergrund. In der Satzung des Dachverbands der Jüdischen Turnvereine Österreich-Ungarns und Deutschland hieß es 1903:

„Die jüdische Turnerschaft bezweckt die Pflege des Turnens als Mittel zur körperlichen Hebung des jüdischen Stammes im Sinne der nationaljüdischen Idee. Unter Nationaljudentum verstehen wir das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller Juden auf Grund gemeinsamer Abstammung und Geschichte sowie den Willen, die jüdische Stammesgemeinschaft auf dieser Grundlage zu erhalten.“ [67]

Nordau wollte über eine verbesserte Physis in weiterer Folge auch das Selbstwertgefühl und die Außenwirkung des Judentums steigern. Juden müssten sich aus ihrem Status des Entarteten lösen. Die jüdische Gesellschaft müsse sich nicht nur geistig, sondern auch in der physischen Ausstrahlung aus dem Ghetto befreien. Er wollte ein Judentum, das das genaue Gegenteil der Gesellschaft darstellte, die er in seinen Büchern „Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit“ und „Entartung“ kritisiert hatte. Alles was der Natur widerspräche, eben den „krummen Ghettojuden“ sah er als entartet, eine Krankheit der Gesellschaft an.[68] Ganz Sozialdarwinist seiner Zeit sah Nordau das Judentum nur überleben, wenn es im „Survival of the Fittest“ reüssieren würde.

Die für Nordau ideale jüdische Gesellschaft und seine republikanischen Ansichten erinnern stark an die aristotelische Tugendlehre, gemäß derer man sich als Einzelner in den Dienst der Allgemeinheit stellen muss um Zufriedenheit zu erlangen. Diese Überlegungen zogen sich seit den 1880er Jahren durch Nordaus Schriften. Er sah die Entwicklung der Kultur hin zum Individualismus als Rückschritt an. Nietzsches „Übermensch“, der außerhalb von Konventionen sein Potenzial erfüllen sollte, als eine Weiterentwicklung des obrigkeitshörigen Mitglieds der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, war zwar ebenfalls ein Fortschritt, jedoch weit weg vom Fortschrittsgedanken Nordaus. Während Nietzsches Zarathustra Individualist war, war Nordaus „Muskeljude“ ein der Gemeinschaft dienendes, soziales Wesen. Der Einzelne sollte durch die Einbringung seiner Tugenden in die Gesellschaft persönliches Glück erlangen. Nordaus Verständnis von Aufklärung war eines das auf Solidarität basierte, wohingegen die Aufklärung der Moderne um 1900 wie sie von vielen Kulturschaffenden propagiert wurde auf einem hedonistischen, individuellen Lebensweg fußte. Er formulierte dies im zweiten Band seines Werks Entartung wie folgt:

„Wie die Ausbildung eines Ichs, einer sich ihrer Besonderheit deutlich bewussten Individualität die höchste Leistung des lebenden Stoffes ist, so ist die höchste Entwicklungsstufe des Ichs die Aufnahmen des Nicht-Ichs in sich, das Begreifen der Welt, die Ueberwindung der Selbstsucht und die Herstellung enger Beziehungen zu anderen Wesen, Dingen und Erscheinungen.“[69]

Diese Ansichten decken sich zu einem großen Teil mit denen von Herzl und spiegelten sich auch in den Schriften „Der Judenstaat“ und „Altneuland“ wider.[70]

Politische Ansichten und Vision des Judenstaats

Nordau war Ideengeber und wichtiger Akteur dank seines Netzwerks in Politik und Wirtschaft, bekleidete aber nie eine offizielle Funktion in der zionistischen Bewegung. Einer der Gründe dafür war die Hochzeit 1898 mit der Protestantin Anna Kaufmann. Diese Mischehe machte Nordau innerhalb der Organisation angreifbar.[71] Ein Brief Herzls an Nordau vom 10. September 1897 unterstreicht den Stellenwert und die Bedeutung die Nordau innerhalb der Zionistischen Organisation hatte, auch ohne eine offizielle Position zu bekleiden.: „Der Schmerz der Baseler Tage war für mich, dass Sie aus der Nothwendigkeit der Sache den zweiten Platz einnehmen mussten, wo Ihnen der erste gebührte. Meine Verehrung für Sie war einer Steigerung nicht mehr fähig…“.[72]

Auch sonst war Nordau in Dingen, in denen der Zionismus sein Privatleben tangieren hätte können, zögerlich. In finanzieller Hinsicht wollte sich Nordau in den Zionismus, den er ideell uneingeschränkt und mit großem Eifer unterstützte, nicht involvieren lassen. So zauderte zum Beispiel bei der Gründung der Jüdischen Colonialbank 1899 mit der Erteilung seines Anteils. Wollte Nordau hier seinen persönlichen Wohlstand nicht mit zu viel Risiko aufs Spiel setzen?[73]

Theodor Herzl brauchte Nordau vor allem als Kontaktmann zu der jüdischen Elite wie Baron Maurice de Hirsch (1831 – 1896) und der Familie Rothschild. Immer wieder bat er ihn darum, für die Zionistische Organisation zu vermitteln um diese kapitalstarken Unterstützer des Zionismus für den politischen Zionismus zu gewinnen, wie man aus der Korrespondenz der beiden herauslesen kann.[74] Herzl brauchte von seinem zehn Jahre älteren Freund aber nicht nur die Herstellung wichtiger Kontakte, sondern auch Rat und vor allem moralischen Beistand. Herzl mag bis heute das Gesicht des Zionismus sein, das Herz allerdings war Max Nordau mindestens in gleichem Maße.[75]

Man kann die Gedanken und Ansichten, die Herzl hier festhielt zum allergrößten Teil für Nordau übernehmen. Auch ein Brief vom 21.4.1898 zeigt, dass Nordau und Herzl sich in den meisten Agenden des Zionismus einig waren: „Nun, was mich in Ihrem Briefe aufrichtete: die vollständige Concordanz meiner Ansichten und Pläne mit denen eines grossen Menschen, den ich liebe und bewundere.[76]

Die Attribute seines Judentums wollte der Zionist Max Nordau auch im zu entstehenden Judenstaat verwirklicht sehen. Nordau entwarf gemeinsam mit Herzl eine Staats- und Gesellschaftsutopie, in der sich viele seiner frühen Gedanken und Überzeugungen wiederfanden. Daraus entstand Herzls „Der Judenstaat“. Diesen las Nordau noch vor der Veröffentlichung und stimmte mit dem was Herzl artikuliert hatte, überein.[77] Er war auch maßgeblich als Verfasser am „Basler Programm“ beteiligt, der vielleicht wichtigsten Schrift der Zionistischen Bewegung.[78]

Der jüdische Staat sollte für Nordau keine Wiederauferstehung des biblischen Zion sein. Zionismus war für Nordau keine religiöse, sondern eine „politische, wirtschaftliche, sittengeschichtliche und soziologische Bewegung“. Deshalb war es für Nordau auch nicht maßgeblich, wo dieser Judenstaat entstand.[79] Max Nordau sah den Zionismus als kolonialistische Unternehmung, bei der die Kultur Europas durch das Judentum nach Osten hin erweitert werden soll.[80] Der politische Zionismus sah Palästina als rückständig an. In einem Brief an Max Nordau schrieb Theodor Herzl am 29.11.1897: „Der Zionismus will Ordnung in einen verwahrlosten Winkel des Orients bringen.“ Zudem wollte der Zionismus die Christen des Orients schützen und sich so die Unterstützung des christlichen Abendlandes schicken, zumindest offiziell, um sich die Unterstützung westlicher Staaten zu sichern.[81]

Nordau und Herzl sahen in der Besiedlung Palästinas eine Kolonialisierung des Orients. Die Rolle der Juden im Nahen Osten beschrieb Herzl in „Der Judenstaat“ so: „Für Europa würden wir den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.“ Das stellte den jüdischen Staat also in der kulturellen Tradition Europas. Die Kultur der assimilierten Juden Westeuropas sollte vorherrschend sein.[82] Sprache und Bekenntnis sollten nicht reguliert werden. Der Judenstaat sollte säkular sein, ganz im Sinne des Atheisten und Wissenschaftlers Max Nordau.

Für den Atheisten Nordau war der Zionismus das neue Judentum. Die religiöse Traditionsgemeinschaft war durch den Wunsch nach einer Heimstätte in Palästina zu einer Nationalbewegung ähnlich der deutschen, italienischen oder französischen geworden.

„Was ist der Zionismus? Der Zionismus ist eine zugleich politische, geschichtliche, wirtschaftliche und sittliche Bewegung, die die tiefen Massen des jüdischen Volkes erfaßt hat, unter ihnen immer größere Ausbreitung gewinnt und sehr bald nicht bloß theoretisch, sondern auch statistisch meinen Ausspruch rechtfertigen wird, daß Zionismus und Judentum identische Begriffe sind.“ [83]

Weiters deklarierte er in dieser Rede: „Der Zionismus erstrebt für diejenigen Juden, die sich in ihrem Geburtslande nicht assimilieren können oder nicht assimilieren wollen, eine öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte in Palästina.“[84]

Sehr viele der Gedanken die Nordau schon vor 1894, dem Jahr in dem seine Berufung zum Zionisten nach der Affäre Dreyfus erfolgte, entworfen hatte, fanden Eingang in die politische Vision zum Judenstaat.

Nordaus politische Ansichten waren liberal, überbordende staatliche Einmischung lehnte er ab. Kleine Staatsgebilde und Genossenschaften, bei denen jedes Mitglied direkt gleichermaßen Verantwortung übernimmt und von den Benefits profitiert, sah er als positiv. Nordau war aber kein Kommunist. Individuelles Eigentum war ihm wichtig. Er trat für ein Einziehen des Staates von Eigentum nach dem Tod des Besitzers ein anstatt Vererbung zu ermöglichen. Auch den Kapitalismus hielt Nordau für unnatürlich und somit entartet. Ordentliche Bürger müssten einer Arbeit nachgehen um der Allgemeinheit zu dienen. Er wollte eine Verbesserung der Landwirtschaft, Bildungsreform für Kinder und Jugendliche und Sozialreformen um Armut zu vermeiden.[85] Im Sinne einer nicht-entarteten Welt sollten auch Intellektuelle körperliche Arbeit verrichten. Das Verständnis von Arbeit unter Juden sollte sich ändern, musste sich laut Nordau ändern. In einer Rede am 5. Zionistenkongress präsentierte er seine Gedanken zum Thema Arbeit im zu gründenden Judenstaat. Es sollte nach Nordau zu einem großen Teil aus Handwerk, Landwirtschaft und Industrie bestehen. Aus dem „Talmudjuden“ der Schreibstube sollte der emanzipierte „Muskeljude“ werden.[86] Nordau und Herzl hielten die demokratische Monarchie und die aristokratische Republik als die beiden tauglichsten Regierungsformen des neuen Staats. Den Berufspolitiker bezeichnete Herzl als „hässlich“, dem einfachen Volke fehle es für die reine Demokratie an Tugend, zu leicht wäre es von Demagogen verführbar.[87]

Wie aber sollte der Plan des Judenstaats in die Tat umgesetzt werden? Viele Gedanken sind konkret in Herzls „Der Judenstaat“ dargelegt. Der sogenannte politische Zionismus um Herzl und Nordau war nur eine der vielen Strömungen innerhalb der Bewegung. Vieles von dem was als Plan vorgestellt wurde, war Improvisation und Gedankenspielerei. Der Unterschied in den Vorstellungen eines zukünftigen, jüdischen Staates im ausgehenden 19. Jahrhunderts zwischen Ost- und Westjuden begründete sich auch auf der jeweiligen Erfahrung mit dem Nationalismus der Staaten in denen die einzelnen Gemeinden angesiedelt waren. Die Ostjuden hingen vielfach noch der Vorstellung eines gemeinsamen Daseins verschiedener Kulturkreise auf geteiltem Territorium mit anderen Nationen nach. Die Westjuden hingegen, beeinflusst auch vom Imperialismus der Länder in denen sie lebten, dachten dementsprechend in erster Linie an eine Staatsgründung. In diesem Zusammenhang sollte man auch die Gedanken hinsichtlich der Araberfrage im zu gründenden Judenstaat in Palästina von Herzl und Nordau sehen. [88]

Nordau und Herzl sahen keine Probleme bei der Durchführung der Bildung des neuen Staates. Palästina betrachteten sie als leeres Land.[89] Zuerst sollten die am stärksten bedrohten und der Armut ausgesetzten Juden Osteuropas übersiedelt werden. Das Fortschaffen der armen jüdischen Bevölkerung würde auch der wohlhabenden jüdischen, assimilierten Klasse helfen. Deshalb gab es von wohlhabenden Juden gegründete Auswanderungsvereine. Herzl nannte diese als „Wohltäter verkleideter Antisemit jüdischen Ursprungs“.[90]

Der Uganda Plan legt sehr anschaulich dar, wie viel Improvisation in diesen frühen Jahren des Zionismus enthalten war. Der Uganda Plan kam als Idee nach den Pogromen in Russland von 1903 auf. Anstelle der langwierigen Staatsgründung sollte ein Übergangsplan die ärgsten Probleme der akut bedrohten jüdischen Bevölkerung abfedern. Der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain unterbreitete der Zionistischen Gesellschaft den Plan ein 300 km langes Gebiet nahe Nairobi für die Gründung eines jüdischen Staates unter britischer Verwaltung zur Verfügung zu stellen. Vor allem unter den orthodoxen osteuropäischen Juden, für die Eretz Israel ausschließlich in Palästina sein durfte, wurde dieser Vorschlag abgelehnt.[91] Auch Max Nordau lehnte den Uganda Plan eigentlich ab. Trotzdem präsentierte er den Plan im August 1903 am 6. Zionistenkongress in Basel. Theodor Herzl hatte ihn darum gebeten, diese als „Nachtasyl“ bezeichnete Lösung den Delegierten als Übergangslösung zur Linderung der ärgsten Not zu präsentieren.[92] In weiterer Folge der Vorstellung dieses Plans am 6. Zionistenkongress wurde Max Nordau Opfer eines Attentats. Ein erboster russisch-jüdischer Student attackierte Nordau mit einer Schusswaffe, verfehlte ihn aber. Daraufhin wurde der Uganda Plan endgültig verworfen.

Auch wenn Max Nordau Atheist war, so erkannte er schnell, dass ein Vorankommen ohne die Unterstützung des orthodoxen Judentums nicht möglich wäre. Herzl und Nordau wollten zwar einen säkularen Staat gründen, anerkannten die jüdische Religion aber als verbindende Tradition. Ohne die Unterstützung der zahlenmäßig überlegenen Juden Osteuropas wäre die Aufgabe von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Dass die Aufgabe bei allem Idealismus schwer sein würde, war Nordau ohnehin klar wie er in seiner Definition des Zionismus zu verstehen gab.

„Was den Zionisten den Mut gibt, diese Herkulesarbeit zu beginnen, das ist ihre Ueberzeugung, daß sie ein nötiges und nützliches Werk tun, ein Werk der Liebe und der Gesittung, ein Werk der Gerechtigkeit und der Weisheit. Sie wollen acht bis zehn Millionen ihrer Stammgenossen aus unerträglicher Not retten. Sie wollen die Völker, unter denen sie jetzt vegetieren, von ihrer unangenehm empfundenen Gegenwart befreien. Sie wollen dem Antisemitismus, der überall die öffentliche Moral erniedrigt und die schlimmsten Instinkte großzieht, das Objekt entziehen. Sie wollen aus den Juden, denen man gegenwärtig Parasitismus vorwirft, unanfechtbare Produzenten machen. Sie wollen ein Land, das heute eine Wüste ist, mit ihrem Schweiße tränken und mit ihren Händen pflegen, bis es wieder wie einst ein blühender Garten ist.“[93]

Fazit

Als Max Nordau 1923 verstarb, war das „Land in der Wüste“ noch kein blühender Garten. Bis zur Gründung des Staates Israel sollte noch ein Vierteljahrhundert vergehen. Der große Vordenker des jüdischen Staates sollte diesen nicht mehr miterleben.

Der gleichermaßen scharfsinnige und wortgewaltige Intellektuelle wandelte seine Ansichten zum Judentum mehr als einmal. So entstand an den Bruchlinien seines Lebens ein aus heutiger Sicht in vielen Dingen widersprüchlich erscheinendes Konstrukt aus Ansichten und Gedanken.

Der erste große Einschnitt erfolgte wohl schon sehr früh. Max Nordau nabelte sich in einem emanzipatorischen Prozess vom religiösen Judentum des Vaters ab. Als bekennender Atheist, der sich als Jude und Einwohner Ungarns vor 1871 für die deutschnationale Idee begeistern konnte, hatte er in der Welle der Magyarisierung in Pest mutmaßlich sowohl innerhalb der jüdischen wie auch der ungarischen Welt mit Widerständen zu kämpfen. Nordau war überzeugter Republikaner, der sich vom Nationalismus seiner Zeit mitreißen ließ, hatte aber ob seiner deutschen Gesinnung keinerlei Verständnis für die Veränderungen im Ungarn der 1860er. Hinzu kamen die privaten finanziellen Probleme durch den Arbeitsverlust des Vaters. Wollte man ein Ereignis ähnlich der Dreyfus Affäre finden, die später nach beliebter Lesart zum Umschwung in Nordaus Leben führen sollte, so wäre es in dieser Periode seines Lebens wohl der Namenswechsel von Südfeld zu Nordau, der symbolisch als Übergang vom jüdischen zum säkularen Leben gesehen werden kann. Nordau wollte dem Judentum um jeden Preis entfliehen. Er sah vor allem die orthodoxen Juden Osteuropas und die jüdische Unterschicht als Grund für die ihm von der Gesellschaft verwehrte Assimilation.

Für reformierte, aufgeklärte Juden wie Max Nordau, die das jüdische Volk negierten und im Judentum eine reine Religionsgemeinschaft sahen, hatte das Wort Zionismus keinerlei Bedeutung. Reformierte Juden erkannten durch das Fehlen des Volksbegriffes auch keine Diaspora an. Geburtsland und Vaterland waren für den reformierten Juden dasselbe. Palästina hatte für reformierte Juden keinerlei Bedeutung. Dies gab Max Nordau 1902 in seiner Schrift „Der Zionismus“ selbst wieder und beschrieb damit wohl recht passend seine frühe Ansicht zum Judentum. Ein Bonmot dieser Zeit sagte: „Wenn das jüdische Reich in Palästina wieder aufgerichtet werden sollte, so würde ich verlangen, sein Botschafter in Paris zu sein.“[94]

Nordau verließ mit Anfang 20 Ungarn und ließ damit auch endgültig das Judentum hinter sich. Nach seinen Reisen die ihn bis nach Russland führten, ließ er sich in der Republik Frankreich nieder. Der Umzug nach Paris und die damit einhergehenden Eindrücke waren wohl die zweite große Zäsur im Leben des Max Nordau. In Paris fand er ab den 1870er Jahren die Anonymität die er suchte. Dort beschloss er seine Ausbildung als Mediziner und sammelte Erfahrungen mit den Themen Hysterie und Neurasthenie. In Nordaus Dissertation kritisiert Nordau die damals gängige Methode der Entfernung der Eierstöcke bei Frauen um diese von Hysterie zu befreien. Die These Nordaus lautete, psychische Störungen hätten ihren Ursprung nicht im organischen, sondern im soziokulturellen und geistigen Bereich.[95]

Nordau beschäftigte sich auch mit der Rassenlehre, die zeitgenössisch durchaus massentauglich war. Rassen sah Nordau zumindest innerhalb Europas nicht als Unterscheidungskriterium, da sie sich zu ähnlich seien. Für Max Nordau war es die Sprache die Nationen untereinander verbindet. „Sprache verbindet die Kultur, die Empfindung und das Handeln der Nation. Die Sprache ist das stärkste Band zwischen Menschen überhaupt, denn die Sprache ist ganz eigentlich der Mensch selbst.“ Mit dieser Begründung rechtfertigte Nordau seine Deutschtümelei.[96]

Gleichzeitig begann er sich in der Großstadt Paris mit den gesellschaftlichen Auswüchsen seiner Zeit zu beschäftigen. Es entstanden in weiterer Folge in den 1880er Jahren Werke wie „Aus dem wahren Milliardenlande“, „Die conventionellen Lügen der Menschheit“ und schließlich sein bekanntestes Buch „Entartung“. Er analysierte den Zeitgeist und unterteilte die Gesellschaft, ganz im Sinne des Mediziners, in „gesund“ und „entartet“, also „krank“. Den immer stärker werdenden Antisemitismus betrachtete er als „entartet“. Bei der Lektüre der Texte fällt der wissenschaftliche Ton auf, der auf eine gewisse Distanz zum Thema Antisemitismus schließen lässt.

Diese Distanz zum fiel an der dritten großen Bruchlinie in Nordaus Leben weg. Sein Zusammentreffen mit Theodor Herzl in Paris unter den Vorzeichen der Dreyfus Affäre war wohl wie dargelegt nicht die monokausale Erklärung für Nordaus Engagement im Zionismus. Durch die Erregung die dieses Ereignis durch die gesamte Gesellschaft schickte, wurde Nordau wohl aber nicht nur sensibler für den Antisemitismus, sondern auch emotionaler. Der Austausch mit Herzl, einem überaus charismatischen Zeitgenossen, fachte die Begeisterung für den Zionismus wohl weiter an. Während Herzl sich mit Leib und Seele sowie persönlichem Risiko dem Zionismus verschrieb und zum Gesicht der Bewegung wurde, war Nordau wohl etwas zurückhaltender. Herzl gegenüber schob er seine Mischehe vor, die ihm bei der Ausübung einer offiziellen Funktion im Wege stehen würde. Als Vordenker, Ratgeber und Netzwerker war seine Funktion innerhalb des Zionismus trotzdem von überaus großer Bedeutung.

Die wohlwollende Meinung zur Assimilation, die der junge Nordau noch als gangbaren Weg betrachtete, hatte sich im Laufe der Jahre und Erfahrungen geändert. Assimilation war ob des Volks- und Rassendiskurses in dem das Judentum verhandelt wurde keine Option mehr.

Sein Blick auf das Judentum änderte sich wenig. Die orthodoxen Ostjuden betrachtete Nordau noch immer als den assimilierten Westjuden unterlegen, auch wenn er ihnen in seinen Reden auf den Zionistischen Kongressen ob der großen direkten Bedrohung durch Pogrome und Übergriffe in ihren Gastnationen die dringlichste Notsituation zuerkannte. Der Judenstaat sollte modern, aufgeklärt, liberal, säkular und Europa verbunden sein, ein Vorposten des Abendlandes im Orient.

Was bei Nordau aber programmatisch in den Jahren nach 1894 hinzukam, war sein Wunschbild des Judentums: es sollte eine solidarische Einheit aus modernen „Bar Kochbas“ sein. Der „Muskeljude“ westlicher Prägung sollte den „Talmudjuden“ ersetzen. Das Judentum sollte sich zu einer wehrhaften Schar Spartaner verändern. Der Sozialdarwinist Nordau ist aus diesen Gedanken sehr gut herauszulesen.

Nordaus Judentum sollte sich nach Westen ausrichten, sowohl kulturell wie auch politisch. Er betrachtete Palästina als Territorium, das nach europäischer Manier kolonialisiert werden sollte. Nordau war in dieser Frage ein Kind seiner Zeit. Der europäische Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatte ihn geprägt.

Nordaus Ansichten zum Judentum lesen sich ob seiner völkischen Ansichten aus heutiger Sicht teils befremdlich. Auch sein Republikanismus scheint im 21. Jahrhundert, in dem sich zumindest in der abendländischen Welt der Individualismus als vorherrschendes System durchgesetzt hat, etwas aus der Zeit gefallen. Er war kein Pazifist, sondern glaubte an ein System, in dem Völker untereinander konkurrieren. Deshalb war es für ihn wichtig, dass jedes Element seiner Gemeinschaft gesund und kräftig ist um so zu einer ebenso kräftigen Gemeinschaft zu werden.

Die moderne, liberale und säkulare Metropole zu der sich Tel Aviv entwickelt hat, hätte Max Nordau wohl gefallen. Auch mit den körperbewussten Einwohnern, die an der Strandpromenade joggen und sich an den öffentlichen und frei zugänglichen Fitnessgeräten fit halten und so die Idee des „Muskeljudentums“ am Leben halten, hätte er wohl gutgeheißen. Jeder Reisende, der Tel Aviv besucht, kennt Theodor Herzl als den Vater des Zionismus. In Tel Aviv genießen Touristen und Einheimische die Sonne am Nordau Beach, einem Strandabschnitt mitten im Hotelviertel im Norden der Stadt. Kaum jemand aber kann mit dem Namen Max Nordau etwas anfangen, obwohl er Ende des 19. Jahrhunderts der prominentere der beiden Akteure des Z

[1] Anmerkung: Ich verwende der Einfachheit und Verständlichkeit auch für die Perioden vor der Namensänderung von Maximilian Simon Südfeld auf Nordau seinen Erwachsenennamen.

[2] Christoph Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau, Frankfurt am Main 1997, S. 33.

[3] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 35-36.

[4] Ebd., S. 37.

[5] Ebd., S. 31.

[6] Ebd., S. 50 – 51.

[7] Ebd., S. 79 – 85.

[8] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 89-95.

[9] Ebd., S. 104 – 106.

[10] Ebd., S. 110 – 112.

[11] Ebd., S. 134.

[12] Ebd., S. 182.

[13] Ebd., S. 282 – 286.

[14] Ebd., S. 292 – 296.

[15] Heiko Haumann, Judentum und Zionismus, in: Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität. …in Basel habe ich den Judenstaat gegründet, Heiko Haumann (Hrsg.), Basel, Freiburg, Paris, London, New York, New Delhi, Bangkok, Singapore 1997, S. 2–22, hier S. 12.

[16] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 299.

[17] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 336.

[18] Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher (Alex Bein/Hermann Greive/Moshe Schaerf/Julius H. Schoeps / Hrsg.). Zweiter Band, Berlin/Frankfurt/Wien 1983, S. 22.

[19] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 348 – 358.

[20] Adolf Gaisbauer, Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus in Österreich 1882 – 1918, Wien/Köln/Graz 1988, S. 9 – 19.

[21] Haumann, Judentum und Zionismus, S. 9.

[22] Max Nordau, I. Kongressrede. Basel, 29. August 1897, in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 39-57, hier S. 39 – 43.

[23] Ebd., S. 44 – 47.

[24] Ebd., S. 48 – 49.

[25] Nordau, I. Kongressrede, S. 50 – 53.

[26] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 41.

[27] Ebd. S. 39.

[28] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 45.

[29] Ebd., S. 37 – 39.

[30] Ebd., S. 89 – 95.

[31] Ebd., S. 185 – 189.

[32] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 176.

[33] Max Nordau, Entartung. Erster Band2, Berlin 1893, S. 369 – 371.

[34] Ebd., Vorwort.

[35] Nordau, Entartung, S. 32 – 33.

[36] Ebd., S. 63 – 65.

[37] Ebd., S. 75.

[38] Nordau, Entartung, S. 197.

[39] Arthur Ruppin, Die Auslese des Menschenmaterials für Palästina, 373–383, hier S. 373–374.

[40] Leon Bootstein, Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848 bis 1938, Wien/Köln 1991, S. 121 – 122.

[41] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 178.

[42] Haumann, Judentum und Zionismus, S. 6 – 7.

[43] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 66.

[44] Ebd., S. 196.

[45] Max Nordau, Die psychologischen Ursachen des Antisemitismus (La Vita Internationale), in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 360 – 367, hier S. 361 – 366.

[46] Theodor Herzl, Der Judenstaat. Nachdruck der Erstausgabe von 1896, Augsburg 1996, S. 30 – 31.

[47] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 265 – 269.

[48] Max Nordau, VIII. Kongressrede. Haag, 14. August 1907, in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 174 – 187, hier S. 178.

[49] Max Nordau, Heloten und Spartaner (Kommers Wiener jüdischer Hochschüler 1899), in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 374 – 378, hier S. 374 – 378.

[50] Max Nordau, Ein Tempelstreit, in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 1 – 17, hier S. 7 – 9.

[51] Herzl, Der Judenstaat, S. 10.

[52] Max Nordau, Das unentbehrliche Ideal, in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 282 – 290, hier S. 282.

[53] Max Nordau, III: Kongressrede. Basel, 15. August 1899, in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 77 – 92, hier S. 81 – 83.

[54] Bootstein, Judentum und Modernität, S. 120 – 121.

[55] Nordau, Das unentbehrliche Ideal, S. 282.

[56] Max Nordau, Zionismus und jüdischer Nationalismus (Ungarische Wochenschrift. Budapest, 27. März 1903), in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 307 – 310, hier S. 309 – 310.

[57] Nordau, Ein Tempelstreit, S. 13 – 14.

[58] Gaisbauer, Davidstern und Doppeladler, S. 23 – 29.

[59] Avis Mathis-Masury, Gefangen zwischen Hora und Tora. Körperlichkeit bei orthodoxen Juden in Israel, Tübingen 2004, S. 3.

[60] Ebd., S. 48.

[61] Ebd., S. 58 – 61.

[62] Nordau, Heloten und Spartaner (Kommers Wiener jüdischer Hochschüler 1899), S. 378.

[63] Max Nordau, Muskeljudentum. (Jüdische Turnzeitung, Juni 1900), in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 379 – 381, hier S. 380.

[64] Nordau, Muskeljudentum. (Jüdische Turnzeitung, Juni 1900), S. 379.

[65] Max Nordau, Was bedeutet das Turnen für uns Juden? (Jüdische Turnzeitung, Juli 1902), in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 382 – 388, hier S. 383 – 385.

[66] Ebd., S. 386.

[67] Gaisbauer, Davidstern und Doppeladler, S. 9 – 19.

[68] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 157.

[69] Max Nordau, Entartung. Zweiter Band, Berlin 1893, S. 22.

[70] Bootstein, Judentum und Modernität, S. 118 – 121.

[71] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 299.

[72] Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher (Alex Bein/Hermann Greive/Moshe Schaerf/Julius H. Schoeps/Hrsg.). Vierter Band, Berlin/Frankfurt/Wien 1983, S. 343.

[73] Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher (Alex Bein/Hermann Greive/Moshe Schaerf/Julius H. Schoeps/Hrsg.). Fünfter Band, Berlin/Frankfurt/Wien 1983, S. 89.

[74] Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Vierter Band, S. 91 und 94.

[75] Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Fünfter Band, S. 109.

[76] Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Vierter Band, S. 453 – 454.

[77] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 37.

[78] Ebd., S. 287.

[79] Ebd., S. 287.

[80] Ebd., S. 330.

[81] Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Vierter Band, S. 379.

[82] Herzl, Der Judenstaat, S. 37.

[83] Max Nordau, Rede. Gehalten in Haag, 10. April 1900, in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 215 – 220, hier S. 216.

[84] Ebd., S. 217.

[85] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 141 – 145.

[86] Michael Brenner, Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute, München 2020, S. 79 – 80.  

[87] Herzl, Der Judenstaat, S. 90 – 91.

[88] Haumann, Judentum und Zionismus, hier S. 10.

[89] Herzl, Der Judenstaat, S. 12.

[90] Ebd., S. 20 – 21.

[91] Patrick Marcolli/Erik Petry/Bettina Zeugin, Strömungen im Zionismus, in: Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität. …in Basel habe ich den Judenstaat gegründet, Heiko Haumann (Hrsg.), Basel, Freiburg, Paris, London, New York, New Delhi, Bangkok, Singapore 1997, S. 250 – 257, hier S. 252.

[92] Nadia Guth Biasini, Max Nordau, in: Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität. …in Basel habe ich den Judenstaat gegründet, Heiko Haumann (Hrsg.), Basel, Freiburg, Paris, London, New York, New Delhi, Bangkok, Singapore 1997, S. 167, hier S. 167

[93] Max Nordau, Der Zionismus, in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Zionistisches Organisationskomitee (Hrsg.), Köln/Leipzig 1909, S. 18 – 38, hier S. 37 – 38.

[94] Nordau, Der Zionismus, S. 37 – 38.

[95] Schulte, Psychopathologie des Fin de Siecle, S. 111 – 112.

[96] Ebd., S. 176.